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Schlüsselkinder waren auch frei(er)

1968 war ich war ein Mädchen von 8 Jahren. Meine Mutter war alleinerziehend, d.h. sie arbeitete, meine älteren Geschwister waren noch in der Schule, oder trafen sich mit Freunden. Ich war, wie man damals sagte, ein ‚Schlüsselkind‘. Wenn ich heute so zurückdenke, stelle ich fest, dass ich meine Kindheit in den letzten 20 Jahren anders bewerte. Ich war frei, lernte mit Gefahren umgehen d. h. vorsichtiger zu sein und vor allem: Kein Handy kontrollierte meine Kindheit.

So schlenderte ich zu verschiedenen Orten in meiner Heimatstadt Darmstadt. Manchmal führte mich ein ca. 2 km langer Weg quer durch die Stadt hin zur Mathildenhöhe. Dort war viel Platz und viel zu sehen für ein phantasiebegabtes Kind. Die kleine russische Kapelle war mein Ziel. Direkt wie aus dem Märchen stand sie da, die goldenen Zwiebeltürme leuchteten in der Sonne. In der Schule hatten wir gelernt, dass die letzte Zarin eine Tochter des Großherzogs von Hessen war und hier war Geschichte plötzlich zu ‚begreifen‘. Damit sie auf geweihtem Boden beten konnte, wenn sie einmal in Darmstadt weilte, wurde der Hügel mit geweihter, russischer Erde aufgeschüttet und darauf die kleine Kapelle gebaut. Traumschön auch außen die Anlagen, die sichtbaren Zeichen wie der Hochzeitsturm, dass Kunst, Jugendstil und die Reformbewegungen unter dem Schutz des Großherzogs Ernst-Ludwig standen.
Als erwachsene Frau war ich noch einmal in der Kapelle, und vielleicht lag es daran, dass ich nun kein Kind mehr war, aber sie kam mir plötzlich wirklich winzig vor. Aber seit 2021 ist es eine Welterbestätte. >>Bilder der Mathildenhöhe 

Ein anderes Mal führte mich der Weg hinunter zum Schloss in der Stadtmitte, weiter zum Landesmuseum dessen Treppenaufgang von zwei prächtigen Löwen rechts und links flankiert war. Eine seltsame Mutprobe zwang ich mir jedes Mal ab. Diese Löwen stehen auf mächtigen Sockeln und es war nicht ganz einfach für mich da hoch zu klettern. Oben angekommen legte ich meine Hand ins aufgerissene Maul des Löwen, und wenn dieser – aus welchen Gründen auch immer – nicht zubiss, war das Orakel vollbracht, welches mir bescheinigte, dass brav gewesen bin, oder ein Wunsch sollte in Erfüllung gehen. So bestätigt betrat ich dann das Museum, ließ mich dort treiben, um Schmuck oder andere kostbare Sachen zu bestaunen.
Obwohl ich bei den vielen unübersichtlichen Abteilungen stets Angst hatte, den Weg zurück nicht rechtzeitig zu finden und noch schlimmer, nicht mehr rechtzeitig wieder nach Hause zu kommen, bin ich doch immer wieder hingegangen.

 

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