3.1
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La Comandante
von Bernd Debus

„Comandante!“ – Wen meint die Frau? Mich sicher nicht. Der Krieg ist seit einem Jahr vorbei. Unsere Armee hat sich aufgelöst und die Macht einer Zivilregierung übergeben. Es gibt keine comandante mehr.

Eine Hand berührt mich am Arm. „Pilar?“

Ich hätte Alejandra fast nicht wieder erkannt. Sie trägt ihr Haar jetzt lang. Und statt einer Maschinenpistole hängt eine Handtasche über ihre Schulter. Mein Blick wandert zu ihrem Gürtel. Keine Waffe. Keine Ledertaschen mit Magazinen.

Unsere Begrüßung fällt etwas steif aus. Pilar  war im Dschungel meine Vertraute. Aber sie war auch meine Untergebene. Sie betrachtet mich mit einem kritischen Blick. „Geht es dir gut?“

Was soll ich darauf antworten? „Nein, es geht mir nicht gut. Ich schlucke zu viele Pillen und trinke zu viel Alkohol. Der Frieden ist für mich zu schnell gekommen. Ich kann nichts mit ihm anfangen.“

Aber la comandante sagt so etwas nicht. Stattdessen frage ich: „Was machst du hier?“ Ich kenne Alejandras Elternhaus. Die Gegend passt nicht zu ihr.

Statt einer Antwort sagt sie: „Komm mit!“

Zehn Minuten später stehen wir vor einer heruntergekommenen Villa mit Einschusslöchern in der Fassade. Jugendstil? Oder doch Art Déco? Eine kleine Blechtafel weist das Gebäude als Waisenhaus Nummer drei aus.

Alejandra ist von Kindern umringt, bevor sie die Eingangstür erreicht hat. Die Jungen und Mädchen mögen sie. Das ist offensichtlich.

Später sitzen wir in einem kleinen Zimmer. Im Hintergrund blubbert eine Kaffeemaschine.

„Wohnst du hier?“, frage ich.

Alejandra nickt. „Ich leite das Waisenhaus.“

„Wie viele?“, frage ich. Es ist fast so wie früher im Gefecht. Kein Wort zu viel. Als könnte ein Wort zu viel immer noch tödlich sein.

„Dreiundachtzig“, sagt sie. „Es waren mal mehr. Die Kinder, deren Eltern auf unserer Seite standen, habe ich fast alle in Familien vermitteln können. Aber die anderen, die will niemand haben.“

Ich schlucke und denke an die Szene vor der Villa zurück. „Aber das sind Kinder. Die können doch nichts dafür, dass ihre Eltern diesem Arschloch von Präsidenten hinterhergelaufen sind.“

Alejandra zuckt mit den Schultern. „Menschen sind so. Was erwartest du?“

Sie holt die Kaffeekanne aus der Küche und ich gieße mir eine halbe Tasse ein. Alejandra füllt den Rest mit Milch auf, bevor sie sich selbst etwas nimmt. Für sie bin ich immer noch la comandante.

Doch dann tut sie etwas, das sie sich früher nie getraut hätte. Sie nimmt mir meine Sonnenbrille ab und sieht mir in die Augen. Ich senke den Blick. Aber sie hat genug gesehen. „Scheiße!“, sagt sie.

Ich stehe auf und blicke aus dem Fenster. Die Kinder sind im Garten. Ich versuche sie zu zählen, komme aber durcheinander. Sie bewegen sich zu schnell. Dreiundachtzig Kinder, die niemand haben will. Allein hier.

„Wie viele sind es insgesamt?“, frage ich Alejandra.

„Fast tausend“, antwortet sie.

Ich drehe mich zu ihr um. „Wie viel ist mein Name noch wert?“

„Du bist immer noch la comandante.“ Sie mustert mich und begreift, was ich vorhabe. Alejandra war schon immer fix im Denken. Sonst hätte sie es nie so weit gebracht. „Pilar, du musst das nicht tun. Das wird eine Menge Anfeindungen aus den alten Seilschaften der Junta geben, wenn ausgerechnet du dich für die Kriegswaisen einsetzt.“

„Wir haben ihre Eltern umgebracht“, antworte ich.

„Es war Krieg. Wir hatten keine Wahl.“

„Man hat immer eine Wahl“, sage ich. „Hilfst du mir?“

Alejandra zögert erst. Dann nickt sie.

An der Tür drückt sie mich kurz. „Du solltest aufhören, dieses Zeugs zu nehmen. Was immer es ist.“

Ich sage nichts dazu.

„Wann treffen wir uns?“, frage ich.

„Morgen Mittag. In meinem Büro.“

Die Kinder mustern mich neugierig, als ich die Auffahrt zum Tor hinunter gehe. Ich habe die Sonnenbrille wieder aufgesetzt und hoffe, dass mich niemand von ihnen erkennt. So weit bin ich noch nicht.

In meiner Wohnung ziehe ich Hemingways „Wem die Stunde schlägt“ aus dem Regal und greife tief in die Lücke, die das Buch hinterlassen hat.

Der Beutel wiegt schwer in meiner Hand. Vor dem Spiegel im Bad setze ich die Sonnenbrille ab. Meine Pupillen sind zu groß. Die Augenringe sehen schrecklich aus. Dann drehe ich das Wasser auf, stelle den Beutel auf den Kopf und kippe die Pillen in das Waschbecken, wo sie sich, sanft rosa schäumend, auflösen.

Ich bin la comandante. Und ich bin noch nicht am Ende. Nein, ich bin noch nicht am Ende.

 

 

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