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Ein altes Foto – Gastbeitrag von Bernd Debus

„You will always be a friend to me
My love persists over land and sea, through centuries
I’ll fill you up like rice and peas,
Like the breeze, Cool ya skin, fill your hair,
Even when I’m not there.“

No Roots, Faithless

„Und das ist ganz allein mein Zimmer?“ Mina stand in der Tür und blickte in den kleinen Raum direkt unter dem Dachgiebel. Das runde Fenster in der Giebelwand war fast undurchsichtig. Ein Bett, ein Schrank, eine Kommode und ein Schreibtisch in Weiß. Alles mit einer dicken Staubschicht überzogen. Auf dem Holzfußboden lagen drei bunte, geknüpfte Läufer. Die Wände waren blau gestrichen.

„Gefällt es Dir?“, fragte Sara.

Mina gab keine Antwort. Aber ihr Gesicht, das sie Sara und Jan zuwandte, leuchtete.

„Wir müssten mal ein bisschen putzen. Und hier und dort etwas die Farbe ausbessern“, sagte Jan. „Aber ich denke…“

„Es ist wunderschön“, sagte Mina ganz leise. „Wem hat das gehört?“

„Das ist das Mädchenzimmer meiner Uroma“, erklärte Sara. „Und zuletzt habe ich hier gewohnt, wenn ich in den Ferien meine Großeltern besucht habe. Ist schon lange her.“

„Sieht man“, lachte Mina.

Jan stimmte in das Lachen ein. „Ich hol dann mal drei Eimer mit Wasser und viele Putztücher.“

***

„Guck mal, was ich gefunden habe.“ Mina nahm Sara an der Hand und zog sie zum Schreibtisch hinüber. Dort lag ein quadratisches Stück Glas auf einem vergilbten Briefumschlag. Sie hob die Glasscheibe hoch und hielt sie gegen das Fenster. Jetzt erst erkannte Sara, dass die Glasplatte ein Foto zeigte. Ein Mädchen, etwa in Minas Alter, saß auf der steinernen Bank, die immer noch so im Garten stand. Im Hintergrund war das Haus zu erkennen. Das Foto war farbig und Sara stellte fest, dass sich hier seit der Aufnahme wenig verändert hatte. Das Rot der Backsteine war damals vielleicht etwas leuchtender. Die Bäume im Garten noch ganz klein. Das Mädchen trug ein weißes Kleid mit vielen Verzierungen und hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Am unteren Bildrand stand in einer schön geschwungenen Handschrift: Irma, 1915.

„Wo hast du das her?“, fragte Sara.

Mina zog die Schreibtischschublade auf. „Das Bild war hier drin. In einem Umschlag, den jemand ganz hinten in die Schublade geklebt hat.“

„Ich dachte immer, dass man vor hundert Jahren noch nicht in Farbe fotografieren konnte.“

„Doch, das gab’s schon“, sagte Jan von der Tür her.

Sara und Mina drehten sich zu ihm um.

„Ich habe da mal als Volontär drüber geschrieben. Das ist eine Autochrome-Platte. Es war sehr aufwendig, so ein Foto herzustellen. Aber dafür war es in Farbe.“

Mina hielt die Glasplatte gegen die frisch geputzte Fensterscheibe und betrachtete das Bild jetzt ganz genau.

Sie musterte das Gesicht des Mädchens, ihre Kleidung, die Wiese und das Haus im Hintergrund. Alles war gestochen scharf.

„Denkt euch die Kleidung weg und das könnte ich sein.“

Sara kicherte. „Was, ich soll sie mir nackt vorstellen?“

„Nein, ja. Von mir aus stell sie dir nackt vor. Aber ich meinte in Kleidung von heute.“

Sara blickte gedankenverloren auf die Glasplatte. „Ja“, sagte sie schließlich, „das könntest du sein. Das Mädchen hat sogar eine etwas dunklere Haut. Genau wie du. Sie muss viel draußen gewesen sein.“

„Weißt du, wer das ist?“, fragte Mina.

Saras sah das Foto lange an. Dann nickte sie: „Das ist meine Uroma. Also die Oma meiner Mutter. Das Mädchen, für das diese Möbel gebaut wurden.“

„Ob sie noch lebt?“

Sara schüttelte den Kopf. „Nein, dann wäre sie jetzt 115 Jahre alt. Irma ist 1988 gestorben. Also kurz nach meiner Geburt. Ich bin ihr bestimmt mal begegnet. Aber ich war zu jung, um mich noch daran erinnern zu können.“

„Ob sie glücklich war?“, fragte Mina.

„Ich glaube ja“, sagte Sara. „Irma war eine der wenigen Frauen, die zu ihrer Zeit studiert haben.“

„Was hat sie studiert?“

„Biologie. Sie war nach dem letzten Krieg hier eine bekannte Naturforscherin. Sie ist viel gereist und hat ganz viele Bücher geschrieben. Nicht nur solche für andere Wissenschaftler, sondern auch welche, die jeder verstehen konnte.“

„Gibt es die Bücher noch?“

Sara lächelte: „Die stehen alle unten im Bücherregal.“

„Komm“, sagte Mina, „Du musst ein Foto von mir machen.“

***

„Irgendwann, in einhundert Jahren, kommen ein Mädchen, ein Mann und eine Frau hierher. Das Haus ist schon halb verfallen. Die Tür hängt lose in den Angeln, die Fenster sind zerbrochen und durch das Dach regnet es rein. Sie gehen die Treppe hoch und öffnen die Zimmertüren. In dem Raum unter dem Dach steht ein kleiner Schreibtisch, der ursprünglich mal weiß gewesen sein muss. Sie ziehen die Schubladen auf, um zu sehen, ob da noch was drin ist und dabei entdecken sie einen Briefumschlag. Darin steckt ein Foto, auf dem ein Mädchen abgebildet ist. Das Mädchen trägt ganz altmodische Kleidung. Am unteren Rand steht ihr Name und eine Jahreszahl: Mina, 2020.“

Mina sah auf die beiden Fotos, das eine vor das Fensterglas gestellt und das andere, gerade ausgedruckte, das vor ihr auf dem Tisch lag.

„Das Mädchen fragt sich, was das wohl für ein Kind auf diesem Foto ist und was aus ihm geworden ist. Ob es glücklich war und ob es noch lebt. Und dann macht sie auch ein Bild von sich und versteckt es in ihrem Zuhause ganz hinten in einer Schublade.“

***

Sara hatte es sich auf der Veranda in einem der Stühle gemütlich gemacht und genoss mit geschlossenen Augen die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Sie hörte das Knarren der Eingangstür und das leise Tap, Tap von Füßen in Wollsocken. Dann zwängte sich jemand neben sie in den Holzstuhl.

„A beautiful sundance.“

„Ja, das ist ein schöner Sonnenuntergang heute.“

Mina legte ihren Kopf auf Saras Schulter.

„Sara?“

„Hmmm.“

„Wie langte dauert es, bis so ein Haus kaputt geht?“

„Das kommt ganz darauf an?“

„Worauf?“

„Darauf, ob noch jemand hier leben möchte. So lange, wie jemand dieses Haus mag und hier wohnt, wird es auch heile bleiben. Es wird nur kaputt gehen, wenn es niemand mehr liebt. Das ist wie bei den Menschen.“

Sie schwiegen eine ganze Weile.

„Sara?“

„Ja, Mina.“

„Ich liebe dieses Haus, und alle, die hier wohnen. Meinst du, das reicht?“

Sara strich Mina über das Haar und legte ihr eine Strähne hinter das Ohr. „Ich denke, das reicht“, sagte sie. „Das reicht ganz bestimmt.“

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Wer selber den Zauber alter Farbfotos spüren will, der kann sich hier welche ansehen:

http://www.loc.gov/pictures/collection/prok/index/subjects (verlinkt ist das Stichwortverzeichnis zu den Bildinhalten)

Hier kann man nachlesen, wie die frühen Farbfotos entstanden sind: http://www.loc.gov/exhibits/empire/making.html (auf Englisch)

http://de.wikipedia.org/wiki/Autochrome-Platte (auf Deutsch)

Anregungen für die Geschichte kamen außerdem aus dem Buch ‚Emma och Daniel’ des norwegischen Autors Mats Wahl.

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