Odyssee – Eine Glosse von Thomas Klinger
(leises Pianogeklimper im Hintergrund)
Ich betrete das Heppenheimer Kreiskrankenhaus pünktlich um 9 Uhr. Mein Hausarzt hat mich hierher geschickt, da er mit seinen Untersuchungen nicht weiterkommt.
An der Aufnahme im ersten Stock wird meine AOK-Karte eingelesen. Die offenbar sachkundige Dame schaut auf ihren Bildschirm:
„Sie stehen hier als angemeldet. Ich leite Sie zu Dr. XXX, dem Neurologen weiter.
Gehen Sie bitte gleich hier rechts in Raum 11. Es ist noch 1 Patient vor Ihnen.
Nach 25 Minuten werde ich hereingerufen. Ich krame meinen Arztbrief hervor.
Der Arzt lacht: „Nein, danke, wir haben doch das Jahr 2020, ich habe Sie hier schon auf dem Schirm. Alle niedergelassenen Ärzte können online die Daten übermitteln.“
Er befragt mich nach meinen Symptomen und untersucht mich.
„Ich sehe, der Hausarzt hat in dieser Woche schon sehr ausführlich Laborwerte erfasst, Borreliose ausgeschlossen, und auch auf Covid 19 getestet.
Dann brauchen wir das nicht mehr machen. Und er hat den Bauchraum vorsichtshalber gründlich sonografiert.“
Er tippt auf seiner Tastatur: „Ihre Symptome sind typisch für eine Gefäßentzündung. Das ist nicht harmlos, so nahe am Auge.
Ha, in einer dreiviertel Stunde ist ein Zeitfenster frei am MRT. Er klickt mit der Maus: „Ich schicke Sie auf Station 10, ich möchte Sie auf jeden Fall bis morgen hierbehalten. Dort wird dann gleich noch einmal Blut abgenommen, ich brauche noch einen Wert.
Nach dem Kopfscan sehen wir uns bei meiner Visite, so gegen 12 Uhr- falls kein Notfall dazwischen- kommt. Sie müssen die Schmerzen nicht aushalten, man wird Ihnen eine Ibuprofen geben.“
Ich beziehe das Zimmer auf der Station. Die Damen hier sind schon informiert, nehmen Blut ab und ich werde zum MRT gebracht.
Kaum habe ich mich ein Stündchen ausgeruht, kommt der Neurologe, eine Assistentin im Schlepptau. „Herr Klinger, das MRT zeigt eine Verengung der Arterie in diesem Bereich, der aktuelle Laborwert bekräftigt meine Vermutung. Außerdem noch Polypen in den Nebenhöhlen. Die sind aber klein und überdies auf der anderen Kopfseite.“
Er schaut auf sein Tablet, und nickt der Assistentin zu, die offensichtlich das gleiche auf ihrem Gerät sieht. „Sie bekommen jetzt eine höhere Dosis Cortison oral, damit die unmittelbare Gefahr vermieden werden kann. Sie werden dann schnell beschwerdefrei sein. Die Station hier wird Ihren Blutzuckerspiegel wegen der Cortison-Nebenwirkung überwachen und – falls nötig mit dem Insulin-Pen eingreifen. Kennen Sie das?
Ich möchte Sie aber gerne noch in der Kopfklinik Heidelberg weiter untersuchen lassen. Wir gehören ja schon lange zum Uniklinikum .“
Er bedient seinen handlichen Tabletcomputer: „Heute ist dort aber kein Termin mehr frei, aber morgen 10:30 Uhr. Ich habe Sie gebucht.“
Nach der Einnahme des Cortisons sinke ich dankbar in mein Bett. Die Schmerzen sind weg.
Das Abendessen ist köstlich. In der KKH-App lese ich, dass das Catering DGG-zertifiziert ist. Zum Frühstück Brötchen vom richtigen Bäcker, Obst und Bio-Joghurt. Ist ja fast wie zuhause.
(Knattergeräusche, anschwellend)
Ich schrecke aus meinem Traum.
Realisiere, dass ein Rettungshubschrauber über der Uniklinik Heidelberg aufsteigt.
Die Stationsärztin kommt herein: „Guten Tag Herr Klinger, ich habe eine Meldung vom Oberarzt, der die Biopsie gemacht hat. Sie können doch schon heute wieder nach Hause.
Ich mache noch die Unterlagen fertig, während Sie in Ruhe packen können. Werden Sie abgeholt?“
„Ja danke, kein Problem,“ lüge ich. Mein Auto steht auf dem Parkplatz.
Ein wenig bedaure ich aber, dieses schöne, ruhige Krankenzimmer mit eigenem Bad verlassen zu müssen.
Auf dem Rückweg komme ich in einen Stau auf der Autobahn und überdenke noch einmal, wie die letzten Tage in Wirklichkeit waren.
(Vorhang) (kein leises Pianogeklimper im Hintergrund)
Ich betrete das Heppenheimer Kreiskrankenhaus pünktlich um 9 Uhr. Mein Hausarzt hat mich hierher geschickt, da er mit seinen Untersuchungen nicht weiterkommt.
An der Aufnahme im ersten Stock wird meine AOK-Karte eingelesen, gebe den Arztbrief und die Überweisung ab und sage, dass ich vom Hausarzt telefonisch angemeldet sei. Die Empfangsdame fragt, warum ich komme. (!)
Ich schildere meine Beschwerden.
„Gehen Sie bitte gleich hier rechts den Gang runter zur Notaufnahme und nehmen diese Mappe mit.“
Verwundert gehe ich zur Notaufnahme, wo ich von einer netten Schwester und einer jungen Ärztin begrüßt werde. Ich werde auf eine Pritsche gelegt, drei Kanülen saugen mein Blut, ein Zugang in meine rechte Armvene wird gelegt. Dann schließt man das EKG an. Mein Einwand, ich habe momentan nix am Herz, sondern große Schmerzen am Kopf, wird mit Achselzucken quittiert.
Von der Notaufnahme-Ärztin sehe ich immer nur ihren gebeugten Rücken. Offenbar ist sie kurzsichtig, ist aber zu eitel, um eine Brille zu tragen.
Dann springt sie auf: „Entschuldigung, ein Notfall, ich komme gleich wieder!“
Mit einigen Strippen hänge ich noch am EKG, mir wird langsam kalt, dann fröstelig. Der Zeiger der Uhr über der Tür durchmisst 25 Minuten, ich werde langsam ärgerlich. Dann kommt zufällig ein männlicher Azubi rein. Ich bitte ihn, mich von den Anschlüssen zu befreien. „Das dürfen nur die Schwestern!“. Immerhin kann ich ihn dazu bringen, mir mein Hemd vom Haken zu geben, mit dem ich meinen Oberkörper notdürftig bedecke. Nach weiteren 15 Minuten reiße ich mir die Elektroden, restlichen Kabel und den Blutdruckmesser selbst ab und ziehe mich wieder an.
Die Ärztin erscheint wieder. Wieso ich nicht liegen würde.
Sie beugt sich wieder über ihren gefühlt 12-seitigen Fragebogen. Sie fragt alles Mögliche ab, auch Sachen, die im Arztbrief stehen. Ob und wann ich schon mal im Kreiskrankenhaus gewesen sei. „Das steht doch gewiss in Ihrer EDV,“ sage ich. Ich nenne abermals Namen und Geburtsdatum und Heureka! sie findet was. Sie druckt willkürlich einen von meinen insgesamt 4 Aufenthalten in diesem Haus aus und tut das Blatt in die Akte.
Ganz am Schluss werde ich gefragt, was meine Beschwerden seien. Wie bitte? Das steht doch im Arztbrief und in der Überweisung. In Deutsch und Latein.
Untersucht werde ich nicht.
Ich werde auf eine Station gebracht, wo mir nette Schwestern ein Bett zuweisen und ich mich ausruhe. Ob ich eine Ibuprofen nehmen darf? Die Schwester zuckt mit den Achseln. Ich nehme eine von den mitgebrachten.
Ich ruhe mich aus. Halb zwölf kommt das versalzene Mittagessen. Nach dem Mittagsschlaf gehe ich zum Stationsempfang und frage, wann denn ein Arzt käme. Eine Schwester in leicht empörten Unterton: „Warum wollen Sie einen Arzt sprechen?“ Ich schnippisch: „Stimmt. Wozu eigentlich. Ich bin ja nur zum Spaß hier.“ „Seien Sie doch nicht so aggressiv!“
Um 17 Uhr 30 kommt der Oberarzt sichtlich gehetzt in mein Krankenzimmer. Erstmals werde ich befragt und auch untersucht. Der Arzt vermutet eine Gefäßentzündung und lässt eine hohe Dosis Cortison bringen.
Nicht vermeiden lässt sich in einem Doppelzimmer, dass man mit dem Bettnachbar mitleidet. Der Herr kam etwa zeitgleich am Vormittag an. Seine Hausärztin hat ihn dringend wegen sehr schlechter Nierenwerte an das Krankenhaus überstellt. Der Oberarzt stellt bei ihm mit dem mobilen Ultraschallgerät einen Harnstau fest (auch erst am Abend). „Bleiben Sie bitte heute abend nüchtern, wir bringen Sie morgen früh gleich in die Urologie nach Bensheim. Die Kollegen müssen vielleicht eine Vollnarkose machen.“
Das Abendessen kommt für uns beide. Ich protestiere: „Der Herr soll doch nüchtern bleiben!“ „Davon wissen wir nichts.“. Er isst sein Abendbrot. „So ein Chaos gibt es in Heidelberg nicht,“ sagt er.
Von dem Cortison bin ich aufgeputscht, aber die Schmerzen verschwinden.
Die liebe Nachtschwester bringt mir Baldrianperlen.
Am nächsten Morgen werde ich zum Ultraschall in einen speziellen Raum gebracht. Eine junge Ärztin untersucht meinen Bauchraum. „Sie haben eine Fettleber und 4 Zysten in der Leber,“ freut sie sich. „Ich weiß, das hat mein Hausarzt vor 2 Tagen auch festgestellt, aber es sind 2 Zysten“, entgegne ich und wundere mich, dass sie den Kopfbereich nicht echolotet. Mein Hausarzt hat die gleichen Untersuchungen in kürzerer Zeit gemacht und überdies auch noch die Herzklappen gecheckt.
Später erfahre ich, dass das Gerät 100.000 Euro gekostet hat, aber keinen Schallkopf für Kopfuntersuchungen bereit hält. Ich muss an die erste Episode aus Monty Pythons „Der Sinn des Lebens“ denken – die Maschine mit dem „ping“.
Noch am Vormittag betritt ein Herr, der meine Wirbelsäule untersuchen will, das Krankenzimmer.
„Sie müssen mich verwechseln,“ sage ich, „ich habe Beschwerden am Kopf, klären Sie das bitte mit dem Arzt.“ Er geht ab und kommt auch nicht wieder.
Gegen Mittag kommt der Oberarzt mit dem Stationsarzt. „Man konnte auf dem Ultraschall nichts erkennen, ich schicke sie aber zum MRT, und die Kollegin von der Neurologie wird Sie auch untersuchen.“
Der Freitag ist schon halb rum , und eigentlich will ich hier nicht noch einmal übernachten. Mehrfach frage ich am Nachmittag bei den Stationsschwestern, wann denn die Neurologin käme. Immerhin werde ich zum Kopfscan gebracht und es wird Blut für eine Senkung abgenommen.
Eine neue junge Dame tritt in mein Sichtfeld. „Ich bin die Logopädin. Ich komme immer vor der Neurologin.“ Nachdem ich ihr ungefragt sehr schnell dreimal hintereinander „Fischersfritzefrisstfrischefische“ entgegengekräht habe, geht sie lachend wieder ab.
Mein Zimmernachbar kommt aus Bensheim zurück: „Mein Gott, in Bensheim ist es noch chaotischer!“ Er rollt mit den Augen, man habe ihm dann doch lokal betäubt einen Katheder gelegt. Der Arme.
Eine Stunde später mache ich Bekanntschaft mit einer sehr kompetenten Neurologin, die die üblichen Tests mit mir macht, sogar den Kopfbereich abtastet. Ich frage, ob die vor 2 Stunden durchgeführte MRT-Untersuchung etwas ergeben habe. Nein, das Ergebnis läge noch nicht vor. „Und die Blutsenkung?“ Sie weiß es nicht, ich solle bei den Schwestern hier in der Station nachfragen.
Das tue ich natürlich, und man schreibt mir die Werte widerwillig auf einen Zettel. Gottlob habe ich meinen Notebook dabei und finde im Internet dass die Werte – oh Schreck – gar nicht gut sind.
Endlich um 18 Uhr erfreut der Anblick des Oberarztes mein Gemüt. Der Kopfscan habe kein Ergebnis gebracht. Es wären aber Polypen in den Nebenhöhlen zu sehen gewesen, deshalb käme der HNO-Kollege heute noch vorbei. Immerhin nichts Schlimmes, beruhige ich mich.
„Ich gehe jetzt aber nach Hause, das Cortison kann ich auch alleine nehmen“. „Nein, wir haben Sie bis Montag gebucht, wir müssen den Blutzuckerspiegel überwachen und gegebenenfalls korrigieren.“ Ich grummele in mich hinein. Im Internet lese ich, dass der Blutzuckerspiegel nach Cortisongabe immer ansteigt, aber im Laufe des Tages auch wieder sinkt. Ich kann es nicht beurteilen und resigniere. Der HNO-Arzt kommt nicht.
Es ist 19 Uhr und schönstes Wetter. Unerlaubt verlasse ich das Haus, gehe eine Stunde im herrlichen Abendlicht am Bruchsee spazieren und fotografiere mit dem Smartfön die Wasservögel. Auf dem Rückweg fängt mich ein Herr vor dem Krankenhaus ab: „Sie müssen Herr Klinger sein. Ihr Zimmergenosse hat mir Ihr auffälliges Hemd geschildert. Ich bin der HNO-Arzt!“ Auf dem Zimmer untersucht er mich nach seinen Regeln der Kunst. „Unsinn, die Polypen sind harmlos und überdies auf der anderen Kopfseite. Das hat nichts mit Ihren Symptomen zu tun.“
Das WLAN ist wenigstens ausgezeichnet, und so kann ich in Ruhe auf ARTE eine Eric-Burdon-Doku und vier Klassikkonzerte genießen.
Samstag morgen hole ich ein Croissant, ordentliche Brötchen und Latte Macchiato beim Bäcker gegenüber. Die Bappedeckeldinger im Krankenhaus (außen Papier, innen Rohteig) hebe ich für die Haubentaucher auf. Die undefinierbare Marmelade stammt wohl noch aus NVA-Beständen. Der blassen Wurstscheibe Ingredienzen will ich lieber nicht wissen. Immerhin richtige Butter.
Meine Familie treffe ich nachmittags auf dem Parkplatz, und ich übernehme dankbar einen Riesenbeutel mit Obst, Unterhosen, Naschwerk und frischem Lesestoff. Auch die bestellten, gut versteckbaren Rotwein-Miniflaschen sind dabei.
Eine Dame betritt das Krankenzimmer. Ich traue meinen Augen nicht: Sie hat ein iPad (o.ä.) in der Hand. Ach, es ist nur zur Bestellung der Essenwünsche.
Ich soll Insulin bekommen. Die Schwester fragt: „Ist das IHR Pen?“. Ich stutze: „Woher soll ICH das denn wissen?“ „Na, dann wird es wohl Ihr Insulin-Pen sein. Ich nehme sowieso immer eine neue Nadel.“ Komischerweise wundere ich mich nicht.
Die Zeit vergeht. Plötzlich ist Montag. Bei der Visite, die erstaunlicherweise nicht nach Feierabend stattfindet, wird berichtet, dass ein weiterer Ultraschall nicht nötig sei. Man könne keine Kopfuntersuchung mit diesem Gerät machen. Außerdem sei durch das Cortison die eventuelle Verengung abgeklungen, so dass man wohl sowieso nichts sehen könne. Aha!
Der Dienstagmorgen bricht an. Ich bin erstaunlicherweise völlig entspannt. Bis ein Pfleger mich zum Ultraschall abholen will. Ich schicke ihn weg.
Jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen! Die Kommunikationsverzögerung beträgt zwischen 5 und 25 Stunden. Ich überschlage die Entfernungen im Kreiskrankenhaus. Ein Bürobote schafft 5 km/h, ein Postpferd wird dagegen in der Kurzstrecke 30 km/h schaffen, ganz zu schweigen vom Gigabit-Intranet.
Es MÜSSEN abgerichtete Schnecken sein. In den Fluren und Treppenhäusern halte ich vergeblich nach Schleimspuren Ausschau.
Ich packe mein Zeug zusammen. 3 Stunden warte ich auf den Bericht, den ich (ausgedruckt!) mit zur Kopfklinik in Heidelberg mitnehmen soll. Der Arzt sagt, dass er für Mittwoch um 8:15 Uhr dort einen Termin ausgemacht habe.
Am nächsten Morgen bin ich pünktlich in der Uniklinik in Heidelberg zur Stelle. Meine Frau habe ich vorsichtshalber zur moralischen Verstärkung mitgebracht. Am Empfang im ersten Stock wünsche ich frohgemut: „Guten Morgen, Klinger, Thomas, Sechsundzwanzigsterzwölfterneunzehnhundersiebenundvierzigig. Ich habe einen Termin.“
Die Dame schaut auf Ihren Bildschirm: „Hier ist nichts eingetragen.“ Aber man habe mich doch aus Heppenheim angemeldet, entgegne ich. Nein, aus Heppenheim sei nichts gemeldet. Ich bitte die Frau in Heppenheim anzurufen und das Ganze zu klären. Das verweigert sie, sie habe keine Telefonnummern von Heppenheim.
„Das kann doch nicht sein, „zweifle ich, „das Kreiskrankenhaus gehört doch schon seit Jahren zum Uniklinikum!“ Eine andere Frau im Glaskasten keift: „Wenn Sie jetzt nicht weggehen, hole ich den Sicherheitsdienst!“
Ein anderer Patient spricht mich an. “Das Organisationschaos hier ist normal. Aber die Mediziner sind Spitze,“ tröstet er mich.
Ich rufe in Heppenheim an, erreiche den Arzt nicht und bitte um Rückruf. Der nicht erfolgt.
Wir erwägen, die Flucht zu ergreifen.
Doch dann sichte ich am Ende des riesigen Flurs, eher eine Lobby, einen weiteren Glaskasten, darin ein einzelner Mann, der seine Maske Armin-Laschet-mäßig am Kinn trägt, sich aber intelligenzmäßig wohltuend abhebt. Auch er kann mich nicht in der Datenbank finden. Er durchwühlt Handakten auf seinem Schreibtisch. Nichts zu finden. Als er einen Aktenkorb ausschüttet, segelt ein loser Wurschtzettel heraus, etwa DIN A6 groß.
„Da! Thomas Klinger, 22.6.1948“, knurrt er, „welcher Depp hat das denn hier abgelegt?“.
Vom falschen Geburtsdatum unbeeindruckt, beginnt er zu werken: „Macht nix, geben Sie mir Ihre Gesundheitskarte. Ich mach `nen Termin. Das kriegen wir hin!“
Dann geht alles plötzlich wie am Schnürchen. Zackzack bekomme ich einen Augenscan mittels eines hochmodernen Geräts, ein Assistenzarzt macht eine komplette Augenuntersuchung, sogar seine vorgesetzte Ärztin kontrolliert noch einmal nach.
„Sie haben 80% auf beiden Augen“, sagt er, während er endlos Fragebogen ausfüllt und parallel dazu in die Datenbank am PC einträgt.
„Ich habe ein bisschen Ahnung von EDV, sind Sie nicht mit dem Kreiskrankenhaus Heppenheim vernetzt?“, frage ich. Er stöhnt nur leise. Aha.
Warum ich denn überhaupt eine Augenuntersuchung bekommen hätte, will ich wissen. Weil im Brief vom Krankenhaus auch „Sehstörung“ stünde. Ich beschwöre, dass ich nie und nimmer Sehstörungen in letzter Zeit gehabt habe und dies demzufolge auch nie und nimmer berichtet hätte.
Dann werde ich dem Oberarzt vorgestellt. Jetzt kommt man zur Sache, und es geht endlich um meine Kopfbeschwerden. Der Oberarzt erklärt mir ausführlich und verständlich in nettem Ton die Sachlage. Eine Gefäßentzündung so nahe am Auge sei nicht ungefährlich. Ich habe Vertrauen zu ihm und schöpfe Hoffnung.
„Wir haben hier einen Spezialisten für Kopfsonografie, da werden Sie gleich hingebracht, und am Freitag will ich sicherheitshalber noch eine Biopsie machen.“
Erst nach 2 Stunden Wartezeit komme ich zum Ultraschall. Der Assistenzarzt konnte die Telefonnummer der Abteilung (im selben Stockwerk übrigens) nicht finden.
Eine Ärztin untersucht meine Halsgefäße. Kann ja nichts schaden. Dann stürmt der Spezialist herein, leitet die Kollegin bei den Kopfgefäßen an und untersucht auch selbst. Sein breiter Kurpfälzer Dialekt wird durch die Gesichtsmaske noch unverständlicher. Egal, es ist nix Schlimmes zu sehen.
Es ist bereits Nachmittag, als wir endlich im Auto sitzen. Vorher hat mir mein Assistenzarzt noch den Termin für die Biopsie am Freitag gegeben: „Melden Sie sich bitte direkt um 9:30 in der Augenklinik im dritten Stock hier im Haus.“
Am Freitag betrete ich, begleitet durch ein Köfferchen mit Übernachtungsmaterial (Unterhosen, Notebook, Ladekabel, Buch, Obstsalat) die Klinik am Neuenheimer Feld.
Leider finden sich im Aufzug nur Taster bis Ebene 2. Also gut, dann halt die Treppe. Im dritten Stock stehe ich zuerst in einem (leeren) Hörsaal und irre durch menschenleere Laborflure. Also wieder runter und jemanden finden, der sich in dem großen Komplex auskennt.
Zwischendurch bin ich in einem anderen Gebäude angelangt. „Oh ich Dummi,“ sage ich zu mir selbst, „wenn Frauen einen in den linken Gang schicken, sollte man RECHTS rum!“
Endlich ein Wegweiser „zu den Stationen“. Ich finde einen Glaskasten. „Nein, hier ist HNO, Sie müssen mit dem Fahrstuhl eins runter ins Erdgeschoss!“ Außen am Fahrstuhl eine recht neu aussehende Hinweistafel: „Augenklinik 3. Stock“. IM Fahrstuhl eine ganz andere Beschriftung. Beherzt drücke ich die Drei, und – Gottlob – es ist die richtige Station!
Am Empfang hat man mich sogar schon erwartet. Zunächst soll ich aber den unterschriebenen Behandlungsvertrag aushändigen. Ich schiebe einen Bogen unter der Glasscheibe durch. Nein, das sei der Vertrag über die ambulante Behandlung.
Ich bin nassgeschwitzt. „Den richtigen Vertrag müssen Sie in der Verwaltung im Erdgeschoss unterschreiben.“ Auf meine flehentliche Bitte darf ich mein Gepäck ausnahmsweise (!) in ihrem Büro deponieren.
Die Verwaltung zu finden stellt sich als Herausforderung heraus, da einige Durchgänge – wohl wegen Corona – gesperrt sind. Immerhin habe ich nach weiteren 35 Minuten den Vertrag in der Hand. Hoffentlich finde ich zurück. Hätte ich doch nur Brotkrumen gelegt ….
Nach nunmehr 2 Stunden werde ich nun endlich von einer attraktiven Schwester mit leichtem russischen Akzent (entzückend!) in mein Zimmer eingewiesen.
Sie gibt mir ein OP-Hemd, die Unterhose könne ich anbehalten. Man werde mich bald zur OP abholen. Nach einer Stunde bin ich mit Hilfe einer OP-Helferin an Ort und Stelle.
Die OP selbst ist macht der nette Oberarzt, der mich am Mittwoch beraten hat. Ich habe Vertrauen unter meiner Kopfabdeckung. Ein angenehmer Sauerstoffstrom wird mir zugefächelt.
Der Operateur ist völlig begeistert bei seiner Arbeit und redet unaufhörlich mit der assistierenden OP-Schwester über die einzelnen Schritte: „Welche Pinzette würden Sie nun nehmen?“ „Oh, sehen Sie nur. Finden Sie nicht, dass diese Arterie wie ein kleiner Regenwurm aussieht?“
So eine kurzweilige OP! Schade, schon wird meine Wunde wieder zugenäht.
Zurück auf der Station. Ich mache mich frisch und schlafe ein.
Ein Hubschraubergeknatter weckt mich sanft.
Die bildhübsche Stationsärztin mit dem thailändisch klingenden Namen am Kittel kommt herein: „Guten Tag Herr Klinger, ich habe eine Meldung vom Oberarzt, der die Biopsie gemacht hat. Sie können doch schon heute wieder nach Hause. Ich mache noch den Bericht und ein Rezept fertig, während Sie in Ruhe packen können. Werden Sie abgeholt?“
„Ja danke, kein Problem,“ lüge ich. Mein Auto steht auf dem Parkplatz.
Ein wenig bedaure ich aber, dieses schöne, ruhige Krankenzimmer mit eigenem Bad verlassen zu müssen.
Auf dem Rückweg komme ich in einen Stau auf der Autobahn und überdenke noch einmal meinen Traum.
(entfernter, allmählich leiser werdender Narhalla-Marsch)
Epilog:
Ja, wir leben in Deutschland auf einer Insel der Seligen. Ich bin zum Beispiel froh, dass im Kreiskrankenhaus eine höchst moderne Kardiologie arbeitet. Die ich schon dreimal aufsuchen musste, und deren freundlich-kompetenter Oberarzt mir drei Stents verpasste.
Gar nicht zur Medizin passt die unterirdische Organisation und mangelhafte Kommunikation.
(Hoffentlich) gut bezahlte Ärzte, die wie im 19. Jahrhundert Briefe tippen müssen und mit Kugelschreiber endlose Fragebogen ausfüllen. Wo aktuelle Laborwerte unnötigerweise erneut erhoben werden und sinnlose Untersuchungen nach Schema F gemacht werden. Zeit und Geld verplempert werden.
Wohlgemerkt: Ich rede hier ausdrücklich nicht von Effizienzsteigerung, die das Personal hetzen soll. Eine Optimierung des Workflow zur Entlastung des Personals und zur Beruhigung der Patienten wäre denkbar. Bin ich zu anspruchsvoll?
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