Es war in der 6. Klasse, als wir erstmals Unterricht in Geschichte hatten. Man begann mit dem Mittelalter, und natürlich wurde auch gleich Karl der Große genannt, von dem wir Jungens alle schon etwas gehört hatten. Auf die Frage des Lehrers, wer denn dieser Mensch sei, kam die einhellige Antwort:
„Ein deutscher Kaiser!“
Daraufhin verließ der Lehrer den Klassenraum und kehrte wenig später mit einem etwas älteren, uns unbekannten Knaben wieder. Der Lehrer stellte ihn als einen französischen Austauschschüler vor und stellte ihm die gleiche Frage.
Charlemagne sei ein französischer Kaiser kam es prompt zurück!
„Seht ihr nun was Karl der Große wirklich ist?“
Dieses Erlebnis ist in meinem Gedächtnis eingebrannt. Es kommt also immer auf den Standpunkt an, und man muss immer mehrere Meinungen hören, bevor man sich ein Urteil bildet.
Darüber hinaus wurde uns klar, dass Karl der Große, dessen 1200. Todestag in 2014 gefeiert wurde, ein riesiges Reich beherrschte, aus dem früher oder auch viel später Nationalstaaten entstanden.
Heute sehe ich die Figur Karls des Großen differenzierter. Allgemein wird er als Vorreiter eines geeinten Europas gefeiert, gleichzeitig würde er wohl in unseren Zeiten als Kriegsverbrecher bezeichnet werden, hatte er doch unter dem Vorwand der Christianisierung mit äußerster Brutalität die Grenzen des Reiches erweitert.
Mir ging es ebenso wie Ihnen, obgleich ich inzwischen ueber 82 Jahre alt geworden bin. Dreifelderwirtschaft, wurde uns damals gelehrt, wurde von KdG „erfunden“. also erstmals eingefuehrt. Obgleich die damalige Beschreibung fuer uns als 10-jaehrige Schueler ausreichend war, ist mir heute klar, das es meistens mehr als eine einzige Person sein kann, die so eine „Erfindung“ macht. Fortschritt in landwirtschaftlichen Methoden waere sicher auch ohne den „Deutshen Kaiser“ erfolgt, aber er war nun mal am Ruder.
So werden oft Fortschritte, Erfindungen, Entdeckungen und Neuentwicklungen jemandem zugesprochen, der vielleicht nur tangential etwas damit zu tun hatte. Medizinische Durchbrueche oder Entdeckungen im Labor werden ueblicherweise dem Chef Physiker oder Professor zugute geschrieben, obgleich die Sternstunde eines untergeordneten Genies wie einer Forschungsassistentin oder gar eines sich noch im Studium befindlichen Schuelers erschien. Ausserdem werden viele „Erfindungen“ und „Entdeckungen“ oft ungeplant und als Nebenprodukte eines ganz anders fokussierten Projektes gefunden. In R & D spielt manchmal das Glueck eine groessere Rolle als das Wissen.