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Ballast – von Renate Schiansky

Sie nahm das blaue Sommerkleid aus dem Schrank; jenes Kleid, das sie getragen hatte, als sie Paul zum ersten Mal begegnet war; hielt es an und warf einen Blick in den Spiegel: ein schwingender Rock, nicht mehr ganz modern. Sie drehte sich kokett: ein wenig zu kurz war es wohl auch, aber man konnte es durchaus noch tragen. Sorgfältig löste sie die Träger von dem hölzernen Bügel, faltete das Kleid zusammen und legte es in den Koffer.
Da war der Pulli, den er ihr auf der Hochzeitsreise in Norwegen gekauft hatte; in jenem entzückenden kleinen Städtchen am Fjord. Als das Wetter so plötzlich umgeschlagen war und sie beide völlig durchnässt und halb erfroren das allerletzte Zimmer im Landhotel ergattert hatten. Es war ein hübscher Pulli, aus kuschelig warmer, weicher, hellgrauer Wolle, mit dem typischen weißen Norweger Sternenmuster. Sie hatte ihn nicht sehr oft getragen, aber in manch langer Winternacht, die sie auf Paul gewartet hatte, hatte er ihr gute Dienste geleistet.
Ihr Blick fiel auf ein Paar hochhackige rote Ledersandalen und sie fragte sich, wie sie es jemals geschafft hatte, damit zu laufen. Paul zuliebe hatte sie sie manchmal zum Tanzen getragen, weil er sie so gerne an ihr sah. Sie probierte sie an, machte ein paar unsichere Schritte durchs Wohnzimmer bis in die Küche; stolperte und wäre beinahe gestürzt. Mit einem leisen Fluch zog sie die Sandalen aus. Zum Glück war nur der Absatz gebrochen und nicht ihr Bein. Ohne Bedauern warf sie die Schuhe in den Müll.
Zwei gestreifte T-Shirts; eines in blau, eines orangefarben. Paul hatte immer behauptet, Streifen stünden ihr gut. Ein paar Tops, eine dunkelblaue Bluse mit tiefem Rücken – Dekolleté und Einsätzen aus Spitze, farblich passende Strümpfe. Für Paul hatte sie sich gerne in dunkles Blau gekleidet. Es kam dem von ihr bevorzugten Schwarz noch am nächsten. Sie stapelte alles ordentlich in einer Ecke ihres Koffers und packte auch den elegant geschnittenen grauen Rock dazu.
Als nächstes nahm sie die Jeans zur Hand, die sie während ihrer ausgedehnten gemeinsamen Radtouren oft getragen hatte. In der linken Gesäßtasche fand sie ein Taschentuch und einen zusammengefalteten Geldschein. Sie war schon sehr lange nicht mehr mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Bei genauer Betrachtung schien die Hose schon ein wenig verwaschen und an manchen Stellen leicht abgewetzt, aber für ein oder zwei Saisonen würde sie wohl noch gute Dienste leisten.
Der Bikini war noch wie neu. Paul hatte an Strand und Badeurlaub nie wirklich Freude gehabt. Da lag auch das große Strandtuch: „Liebe ist … “ Sie faltete es nicht auseinander. Irgend etwas davon, gemeinsam übers Meer zu rudern oder zu segeln. Es war nicht mehr wichtig. Sie rollte es zusammen, sodass es sich noch an einer Seite in den Koffer quetschen ließ. Ganz obenauf breitete die scheußliche, knallbunte Decke, die er ihr aus Guatemala mitgebracht hatte; von der ersten Reise, die er ohne sie unternommen hatte.
Alleine.
Oder doch nicht alleine.
Sie zuckte die Achseln, klappte den Deckel des Koffers zu und schloss den Reißverschluss. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges.
Sie schlüpfte in bequeme schwarze Pumps, nahm ihre Handtasche vom Haken, legte die Wohnungsschlüssel im Vorzimmer auf die Kommode und löschte das Licht. Entschlossen trat sie auf den Korridor hinaus und zog hinter sich die Türe zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. Zwei Treppen nach unten, über den kopfsteingepflasterten Hof, durch die schmale Einfahrt, dann stand sie auf der Straße. Eine sanfte Brise trug den Duft des Frühlings heran und zauste ihr Haar.
Sie schob den Koffer in den Caritas – Laden im Häuserblock gegenüber.
Kein Bedauern.
Keine Erinnerungen mehr. Kein unnötiger Ballast.
Zögernd stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen, als sie das Taxi heranwinkte; ein wenig unsicher noch, aber sie hieß es willkommen.
„Zum Bahnhof!“ dirigierte sie den Chauffeur.
Zum nächsten Zug.
Egal wohin.

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