4.6
(10)

Gastbeitrag von Dagmar Voigtländer – Jederzeit

„Dann sehen wir uns heute Abend , Hanna. Ich freu mich!“  Mit einem Lächeln legte Anne den Telefonhörer auf die Basisstation. Jetzt eine schöne Tasse Tee und danach in aller Ruhe „aufhübschen“  für den Abend mit ihrer Freundin. Heinrich, ihr „Göttergatte“ würde daheim in aller Ruhe schmökern und sich eine „Ausnahmsweise-Pizza“ bestellen. Während Anne ihren Tee ziehen lies, kehrten ihre Gedanken zurück zu dem Tag, an dem sie soviel gelernt hatte.

An diesem unglückseligen, verfluchten Morgen als ihr Heinrich seinen Herzinfarkt hatte. Mit Blaulicht waren sie ins Krankenhaus gefahren, sie vorne auf dem Beifahrersitz, er hinten auf der Pritsche, schon da weggetreten und nicht ansprechbar. Im Krankenhaus war er sofort zu den Untersuchungen weggebracht worden. Man hatte sie am Wartebereich zurückgelassen, wie ein altes Möbelstück. Nichts zu tun außer sich zu fürchten und sich das Schlimmste auszumalen. Eine Zigarette wäre jetzt gut gewesen, aber das Rauchen hatte sie sich schon vor Jahren abgewöhnt. Nicht mal Kleingeld für einen Kaffee hatte sie und vom Wartebereich weg zu gehen, um irgendwo Geld zu wechseln, verbot sich von selbst. Was, wenn dann gerade der Arzt käme?  Nein, sie musste hier bleiben und tapfer sein. Ihr Hals war trocken, sie schluckte schwer und begann in ihrer Tasche zu wühlen. Ein einsames kleines Bonbon, das sich tief in der Ecke der Handtasche versteckt hatte, rettete sie über die nächsten paar Minuten. Sie merkte kaum, dass ihr Blick immer wieder auf ihr Handy fiel. Wen könnte, wen dürfte sie anrufen? Klar, da waren ihre Kinder, ihre Jungs. Aber was sollte sie ihnen erzählen, so lange sie nicht sicher wusste, was Heinrich wirklich geschehen war?  Sie wollte sie nicht beunruhigen, fürchtete sich davor, dass die beiden alles liegen und stehen lassen würden, sich auf den Weg machten und dabei vielleicht viel zu schnell fahren würden … In ihrem Herz tanzte die Angst Ringelrein. Die Bilder eines Autounfalles erschienen prompt und sie brachten die Panik mit.

Wo war ihr Mann, was machten sie mit ihm, warum sagte ihr keiner etwas und wen, wen zur Hölle sollte sie anrufen? Hanna! Nein! Nicht Hanna! Gerade weil sie ihr als Erste in den Sinn kam, durfte sie der Versuchung nicht nachgeben. Hanna war ein wunderbarer Mensch, aber sie hatte eine Krankenhausphobie, ihr wurde regelrecht schlecht, sobald sie nur eine Klinik betreten musste. Schon oft genug hatte Anne sie zu Routineuntersuchungen begleitet. Nachdem sie beim ersten gemeinsamen Klinikbesuch erlebt hatte, wie die ansonsten so resolute Hanna erst weiß wie eine Wand geworden war um kurz danach panisch nach Luft zu schnappen hatte sie die „Erste-Hilfe-Hanna-Tasche“ erfunden. Darin: eine Tafel Schokolade, ein Taschentuch, eine kleine Flasche  Kölnisch Wasser und wenn es ganz schlimm kommen sollte, ein Flachmann mit genug Bommerlunder für zwei. Seitdem gab es keine Zwischenfälle mehr.

Je länger sie an Hanna dachte, umso größer wurde ihre Einsamkeit. Es würde so gut tun, wenigstens ihre Stimme zu hören, ihr erzählen zu können, was passiert war. Nicht mehr alleine das alles auszuhalten, die Angst, die Unsicherheit, dieses Gefühl dass ein Stein auf ihrer Brust lag, der ihr langsam den Atem nahm. Sollte sie, durfte sie ? Wie von alleine drückte ihr Finger auf die Anzeige im Handy. Es klingelte am anderen Ende, einmal, zwei mal, drei mal und schon wollte sie auflegen, halb froh Hanna nun doch nicht belästigen zu müssen, als ein forsches fast fröhliches „Reitermann, hallo?“ ihre Gedanken unterbrach. „Ich bin´s, Anne.“ Dann wollten keine Worte mehr kommen. Erschrocken merkte sie, dass ihr Augen voller Tränen waren. „Dumme alte Kuh, hör auf mit dem Selbstmitleid, sonst verschreckst du Hanna vollends.“ Das waren ihre Gedanken. Immer noch keine Worte. Dann Hannas Stimme, leise, fast zärtlich „ Anne, was ist los mit dir, weinst du?  Wo bist du denn, sag doch was, um Himmels Willen.“  Die Angst in Hannas Stimme brachte Anne halbwegs wieder zur Vernunft und sie konnte endlich Auskunft geben. Nein, es ginge ihr gut, es wäre nur, sie wäre so ganz alleine im Klinikum und Heinrich, ihr Heiner sei schon ganz lange bei der Untersuchung und dann sei das so eine schlimme Nacht gewesen….und … Sie wollte weitersprechen, wollte Hanna sagen, es sei nun gar nicht mehr so schrecklich sie solle sich keine Sorgen machen, aber Hanna unterbrach sie mit einem einzigen kleinen Satz: „ Ich bin gleich da!“

Und eine Viertelstunde später war sie tatsächlich vor ihr gestanden.  „Was macht ihr denn für Sachen?“ hatte sie gemurmelt und Anne erst einmal in ihre Arme gezogen und festgehalten. Mit ihr waren irgendwie Mut und Hoffnung zurück gekommen. Wenn Hanna für sie ihre Angst überwunden hatte, dann hatte sie, verdammt noch mal, auch stark zu sein und das bisschen Warten würde auch vorüber gehen. Warum hatte sie nur so rasch die Hoffnung aufgegeben?

Hanna zauberte eine kleine Flasche Mineralwasser aus ihrer Handtasche. Nachdem der erste Durst gestillt war fing Anne an zu erzählen, über die letzte Nacht. Heinrich hatte sie am frühen Morgen geweckt und ihr gesagt ihm sei so schlecht und außerdem hätte er Schmerzen im Bauch und in der Brust. In ihrem Alter hatten beide schon zu viel „Frühstücksfernsehen“ gesehen, um nicht zu wissen, dass diese Beschwerden auch mehr als nur eine Magenverstimmung sein konnten. Also hatte sie den Zettel mit den Notfallnummern aus der Telefonschublade hervorgekramt. Diesen doofen Zettel, der immer im Weg war, den man nie benutzen wollte. Bis man ihn brauchte. Zehn lange Minuten später war dann der Krankenwagen da gewesen. Die Fahrt ins Krankenhaus war ihr vorgekommen wie ein schlechter Traum und seit dem war sie wie das Kaninchen vor der Schlange vor genau der Tür sitzen geblieben, hinter der Heinrich verschwunden war. Es waren nun schon etliche Stunden vergangen.

„Und du hast seit dem nicht nachgefragt?“, war Hannas Reaktion gewesen. „Wahrscheinlich liegt der feine Herr schon seit einer Stunde feist und gemütlich im Bett und hat schon das Frühstück serviert bekommen, während du dich hier noch grämst!“ , hatte sie mit feiner Ironie bemerkt und dann sehr bestimmt gesagt: „Komm, wir fragen jetzt einmal nach, wenn es ganz schlimm wäre, hättest du schon lange Bescheid.“  Anne musste lächeln. Hanna und ihr unverwüstlicher Optimismus, ja genau der hatte ihr gefehlt.

Wenn Anne sich heute an diesen Tag erinnerte, dann waren ihre Gefühle nicht mehr geprägt von Angst, sondern von Dankbarkeit und Glück. Der Arzt, der auf ihre Anfrage hin endlich vorbeischaute, konnte sie beruhigen, es war nur ein Flimmern gewesen, nichts Schlimmes. Er sagte all das, was in solchen Fällen immer gesagt wird, mehr Bewegung, bessere Ernährung und vielleicht die ein oder andere Pille für den Blutdruck. Halb weinend, halb lachend war Anne Hanna um den Hals gefallen. Sie war so unendlich erleichtert und es tat so gut dieses wunderbare Gefühl mit ihr teilen zu können.

Nachdenklich rührte Anne in ihrem mittlerweile kalten Tee. Vor diesem Tag war Hanna ihr eine liebe Bekannte gewesen, ein Mensch den sie mochte. Aber in dieser Notsituation, als Anne sie wirklich brauchte, war sie ohne zu zögern für sie da gewesen. Ohne auch nur einen Augenblick an sich selbst und ihre eigene Angst zu denken. Freundschaft war ein Schatz, den man immer und überall finden konnte, wenn man wollte. Und genau das wollte sie auch für Hanna sein, eine Freundin, nicht nur in guten Stunden. Jederzeit.

Foto von Louis Bauer von Pexels

Wieviele Sterne möchtest Du für diesen Beitrag vergeben ?

Klicke bitte auf einen Stern, um zu bewerten.

Durchschnittliche Bewertung 4.6 / 5. Menge der Abstimmungen 10

Dies ist die erste Bewertung