Sommer, unvollendet
Cinq cent milliards de petits martiens
Et moi, et moi, et moi
Comme un con de parisien
J’attends mon chèque llde fin de mois
J’y pense et puis j’oublie
C’est la vie, c’est la vie
(Jacques Dutronc: Et moi, et moi, et moi)
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Sara liebte diese stillen Abende am See. Der Wind war eingeschlafen, das Wasser war glatt und während die Luft langsam abkühlte, strahlten die Felsen, die tagsüber in der Sonne gelegen hatten, noch eine angenehme Wärme aus.
Es war der dritte Sommer, den sie im Norden verbrachten. Sie verschwanden Anfang Juli aus Hamburg und kehrten erst Ende September wieder zurück. Sie konnten es sich leisten. Die Geschichten, die sie im Winter recherchierten, brachten genügend ein, um damit den Rest des Jahres über die Runden zu kommen. ‚Multimedial‘ war das Zauberwort. Dazu noch ein paar Auftritte in Talk-Shows und als Experten in Live-Schalten. So lange es in den arabischen Ländern weiter brodelte, würden die Honorare fließen.
Jan kam den Pfad von der Hütte herunter. Er hatte eine Decke in der Hand, die er auf den Felsen ausbreitete und sie legten sich nebeneinander. Diese abendlichen Treffen waren für sie zu einer Art Ritual geworden. Die Tage gehörten Mina, ihren finnischen Freunden und dem Sommer. Die Abende gehörten ihnen.
„Schläft sie?“, fragte Sara.
Jan nickte. „Sie hat keine Angst mehr.“
Aus der Ferne hörten sie das Geräusch eines Motorbootes, das irgendwo außerhalb der Bucht über den See fuhr.
„Du hast übrigens Post aus Hamburg“, sagte Jan.
Sara sah ihn fragend an.
„Vom Verlag.“
„Was wollen die denn von mir?“
Statt einer Antwort reichte Jan ihr den Brief: „Lies!“
… werde ich aus gesundheitlichen Gründen in Zukunft kürzer treten müssen. Deshalb würde ich Sie gerne als meine Nachfolgerin einarbeiten. Ich persönlich würde mich über eine Zusage sehr freuen. In Erwartung Ihrer Antwort, Janos
Sara lies das Blatt Papier sinken und blickte auf den See hinaus.
Jan war es schließlich, der redete: „Das wäre das Ende unseres Teams. Keine Reportagen mehr aus Krisengebieten. Keine Background-Stories aus der ‚Hölle‘. Stattdessen hättest Du einen Bürojob. Nine to five.“
Sara zuckte mit den Schultern. „Wir hätten sowieso nicht so weiter machen können wie bisher. Nicht mit einem Kind.“
„Meinst Du, Mina wird für immer bei uns bleiben?“, fragte Jan.
„Naruk hat sie uns anvertraut und wir haben ihm versprochen, uns um sie zu kümmern. Das sind wir ihm auch schuldig. Er hat uns oft genug den Hintern gerettet, wenn es brenzlig wurde. Und es gibt keine Verwandten mehr, die sie aufnehmen könnten.“
„Du magst Mina?“
Sara lächelte. „Ja, ich mag sie. Und du?“
„Ich auch.“ Jan seufzte. „Aber die Vorstellung, dass wir jetzt zu dritt sind, ist noch sehr fremd.“
„Geht mir genauso. Ich muss mich jeden Morgen daran erinnern, dass wir nicht mehr alleine wohnen.“
Jan kicherte. „Mina wird nicht gleich in Ohnmacht fallen, wenn sie dich mal ohne Nachthemd sieht.“
Sie schwiegen.
„Seit die Sache mit Naruk passiert ist, habe ich Angst“, sagte Jan schließlich.
„Angst haben ist normal, wenn auf einem geschossen wird.“
„Das war anders. Als wir kurz vor dem Flughafen in den Hinterhalt geraten sind, ich hatte solche Angst, dass ich nicht mehr richtig funktioniert habe. Angst, dass es wieder passiert. Nur, dass es dieses Mal dich erwischen könnte. Oder Mina. Oder mich.“ Seine Stimme war immer leiser geworden.
„Das hast du mir nie erzählt.“
„Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.“
„Wenn ich das Angebot annehme, das würde aber schrecklich langweilig für uns. Ich würde jeden Tag das gleiche machen. Und das Schlimmste, was passieren könnte wäre, dass die S-Bahn Verspätung hat oder dass das Auto nicht anspringt.“
„Ganz neue Herausforderungen“, sagte Jan.
„Was würdest du machen, während ich arbeiten bin?“
„Wir waren doch bisher immer ein Team… – Also, warum teilen wir uns nicht auch die Stelle in der Redaktion?“
Sara schwieg, dann grinste sie: „Ich möchte zu gerne Janos Gesicht sehen, wenn er das hört. Aber er wird die Kröte fressen, wenn wir ihm klar machen, dass es uns nur im Doppelpack gibt. Eine Woche du, eine Woche ich. Und Urlaub bekommen wir gemeinsam.“
Die nächsten Minuten sahen sie ihrem nächsten Nachbarn Mikka zu, der sein Anglerboot über die Bucht zu seinem Lieblingsplatz ruderte.
„Weißt du eigentlich, was du da vorschlägst?“, fragte Jan schließlich.
Sara räkelte sich und richtete sich dann auf: „Wie lange kennst du mich jetzt?“
Er überlegte kurz: „Neun Jahre, elf Monate und fünfzehn Tage.“
Sara lachte. „So genau wollte ich es gar nicht wissen. Aber hast du in den neun Jahren, elf Monaten und fünfzehn Tagen mal erlebt, dass ich wichtige Entscheidungen getroffen habe, ohne vorher darüber nachzudenken?“
„Wie lange denkst du schon darüber nach?“
„Seit Naruk tot ist und seit jeden Morgen ein zehnjähriges Mädchen an unserem Tisch sitzt, die niemanden mehr hat, außer uns. Seitdem denke ich, wir sollten aufhören.“
„Und vor so einem normalen Alltag hast du keine Angst?“, fragte Jan.
„Ich freu mich drauf“, sagte Sara. „Ich möchte diese ganzen langweiligen Sachen machen…“
„Wie zum Beispiel?“
„Jede Nacht mit dir im gleichen Bett liegen, morgens mit dir zusammen aufstehen, jeden Tag zur gleichen Zeit nach Hause kommen, mit dir Essen kochen, am Samstag mit dir Wäsche aufhängen und am Sonntag Freunde besuchen. Einkaufen gehen, im Garten Gemüse pflanzen, mit dir und Mina um den Wolnysee spazieren gehen oder einfach mal in der Sonne liegen und mir Gedanken darüber machen, dass ich die Sahne fürs Abendessen vergessen habe. Mich über die Lehrer in Minas Schule ärgern und mit ihr über die Notwendigkeit von Hausaufgaben streiten.“ Sara musste Luft holen. „Wir könnten in Omas Haus in Pinneberg einziehen. Die Zimmer würden gerade so reichen. Und wenn sich das mal ändert, bauen wir halt an. Platz ist ja genug.“
„Klingt verlockend“, meinte Jan und schmunzelte. „Aber wir müssten hören, was Mina dazu sagt.“
„Ich denke, sie wird Ja sagen. Sie wird da sein wollen, wo wir sind.“
„Sie wird es nicht leicht haben“, wandte Jan ein.
„Aber leichter als andere. Sie hat einen deutschen Pass. Sie spricht drei Sprachen fließend. Darunter Deutsch. Und sie kann sich wehren, wenn ihr jemand blöd kommt.“
„Wir müssten uns noch um eine Menge Sachen kümmern. Ich mag keine Blümchentapeten. Und wir haben nur die paar Möbel aus der Stadtwohnung. Und Mina hat keine Schule.“
„Wann brechen wir auf?“, fragte Sara.
„Wir würden das Ende des Sommers verpassen“, sagte Jan.
„Der Sommer geht auch in Deutschland irgendwann zu Ende.“
„Aber nicht so wie hier.“
„Nein, nicht so wie hier.“ Sara reckte sich und betrachtete den Himmel, der sich langsam graublau färbte. „Ich könnte Janos morgen anrufen.“
„Hmm“, brummte Jan. „Ich werde die Sommer vermissen.“
„Ich werde sie auch vermissen.“ Sara kuschelte sich an ihn und seufzte. „Wollen wir heute Nacht hier draußen schlafen?“
Jan nickte. „Meinst du, wir werden dann immer noch so verrückte Sachen machen, in unserem neuen, langweiligen Leben?“
„Kommt ganz drauf an. Möchtest du sie denn noch machen?“
Jan kicherte an Saras Rücken und küsste sie in den Nacken: „Jederzeit.“
„Dann werden wir sie auch machen.“
Sie schwiegen und lauschten dem Quietschen der Dollen, als Mikka sein Boot zu einer anderen Stelle ruderte.
Sara gähnte. „Holst Du die Luftmatratze und das Bettzeug?“
Jan stand auf.
„Und schreib Mina einen Zettel, wo wir sind.“
Er lief den Felspfad zur Hütte hinauf. Es war schade um den Sommer. Aber ein bisschen fing er schon an, sich auf Hamburg zu freuen. Nur ein bisschen. Aber das war immerhin ein Anfang.
© Foto: Bernd Debus
Gestaltung: Barbara Nagel www.vaen-design.com
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