4
(25)

Wind
von Yoanna Schulz-Zhecheva

„Und wenn du es noch weitere fünfzig Jahre behauptest, wird es dadurch auch nicht wahr. Ich habe es nicht getan.“

Seine Augen blinzeln wütend unter den buschigen weißen Augenbrauen hervor.

„Ich sollte sie ihm bald wieder stutzen,“ denkt sie, „damit er mehr als nur seine Nasenspitze sehen kann.“

Er atmet energisch aus und richtet seinen Blick auf etwas vor ihnen, das nur er sieht.

Sie schweigt. Er schweigt. Dann steht sie auf, legt ihre Hand auf den Griff des Gehstocks aus dunklem Holz und geht langsam den steinernen Weg zurück ins Haus. Er bleibt allein auf der Bank sitzen.

Über seinem Kopf rascheln die Blätter der Birke im Wind. Die Äste hängen tief, die untersten berühren fast den Boden seines Strohhuts, und bilden einen grünen Rahmen um das Bild, das seine Augen gefangen hält. Wie ein weicher Teppich erstrecken sich vor ihm die Felder, hier und da gewölbt, dann wieder flach, getupft in unzähligen Nuancen von grün. In der Mitte leuchtet ein goldenes Rechteck, das das Sonnenlicht zu reflektieren scheint. Sonnenblumen. Dort lässt er seinen Blick ruhen.

Dass sie immer wieder damit anfangen muss! Nach all den Jahren, all den Feldern, die sie zusammen bestellt, all den Brotlaiben, die sie zusammen gebrochen, all den Kindern, die sie zusammen großgezogen haben. Er schüttelt den Kopf und spürt, dass der Ärger immer noch auf seiner Zunge brennt. Er öffnet den Mund und lässt den Wind sie abkühlen. Denselben Wind, der die Wolken verjagt und die Sonnenblumensamen auf den Boden verstreut.

Er wollte es machen. Er hätte es tatsächlich fast gemacht. Er kann sich noch gut an das leere Blatt Papier auf der Kiste in der Scheune erinnern. Er hielt sogar den Füller in der Hand. Es war der Füller seines Vaters, der mit der silbernen Feder, mit dem Vater Briefe an seinen Bruder schrieb, der vor Jahren nach Argentinien ausgewandert war. Er hatte ihn heimlich in die Hosentasche gesteckt.

Er saß lange auf dem Boden vor der Kiste mit dem leeren Blatt darauf, hielt den Füller in der Hand, stellte sich ihr Gesicht vor und suchte nach den richtigen Worten. Er fand sie nicht. Er war eben nicht Kosta, der Nachbar, der ihr schon seit Wochen den Hof machte, ihr immer kleine Geschenke aus der Stadt brachte und Liebesverse schrieb. Seine Hände waren für Arbeit gemacht und nicht für Füller mit silbernen Federn. Und wenn sie ihn wollte, dann so, wie er wirklich war, mit seinen sonnengebräunten schwieligen Händen. Das tat sie. Und auch fünfzig Jahre später tut sie es immer noch. Dessen ist er sich sicher. Zumindest die meiste Zeit. Außer dann, wenn sie wieder damit anfängt.

Verwechselt sie ihn vielleicht mit diesem Wichtigtuer Kosta, fragt er sich dann. Bereut sie es, nicht ihn gewählt zu haben und redet sich deswegen ein, etwas gesehen zu haben, was gar nicht so war?

Es ist soweit. Die Sonne hängt wie eine dicke Weintraube direkt über dem Horizont. Wie jeden Abend hält er den Atem an, während sie langsam ins grüne Meer der Felder eintaucht. Wie jeden Abend sucht seine Hand dann ihre Hand.

Die Sonne ist weg. Bald kommt er bestimmt rein. Sie spürt wie ihre Wut langsam verebbt. Es war schon ein bisschen kindisch von ihr, einfach so wegzurennen. Bei dem Wort muss sie schmunzeln. Gerannt ist sie lange nicht mehr.

Sie setzt den Wassertopf auf den Herd und schaut wieder aus dem Fenster. Hoffentlich bleibt er nicht zu lange, sonst erkältet er sich noch. Sie hätte dieses leidige Thema nicht anfangen sollen. Es endet immer gleich, egal wie oft sie darüber streiten. Aber wie kann er sich nicht daran erinnern? Wie kann jemand so etwas schreiben und es einfach vergessen? Es war schließlich nicht eine dieser schnulzigen oberflächlichen Liebeserklärungen des Nachbarjungen Kosta, der glaubte, ihre Liebe mit Schmuck und hinkenden Versen kaufen zu können. Es war ein Brief, der sie dazu brachte, alles, was sie besaß in einen Beutel zu packen und mitten in der Nacht das Haus ihres Vaters zu verlassen, mit ihren Schuhen in der Hand, damit sie keiner hört. Die Worte brannten sich in ihre Haut ein, sie trägt sie immer unter ihrem Hemd. Doch der Brief ist weg, einfach verschwunden. Mit den Eiszapfen im Frühling weggeschmolzen. Oder hatte der Wind ihn mit den trockenen Herbstblättern weggetragen?

Sie füllt die Teekanne mit getrockneten Kamillenblüten, die sie letzten Sommer auf der Wiese hinter ihrem Haus gesammelt haben und gießt das kochende Wasser darüber. Aus dem alten Schrank in der Ecke, über dem die Fotos ihrer Kinder und Enkelkinder hängen, holt sie zwei Tassen heraus und stellt sie auf den Tisch.

Es ist so lange her, dass der Brief verschwunden ist, doch ihre Finger sehnen sich immer noch nach dem Duft des Papiers. Und er behauptet allen Ernstes, er hätte ihn nie geschrieben, sie hätte sich das ausgedacht. Wie kann man so etwas vergessen? Sie setzt sich mit einem Seufzer an den Tisch und schaut wieder aus dem Fenster.

Auch wenn sein Gang sich über die Jahre verändert hat, kann sie seine Stimmung immer noch an seinen Schritten erkennen. Leise nähert er sich der Haustür, und noch bevor er sie öffnet und sich ihre Augen treffen, weiß sie schon, dass er nicht mehr wütend ist.

Er schließt die Tür hinter sich. Sein Blick fällt auf die dampfenden Tassen auf dem Tisch. Er lächelt. Sie lächelt.

Wieviele Sterne möchtest Du für diesen Beitrag vergeben ?

Klicke bitte auf einen Stern, um zu bewerten.

Durchschnittliche Bewertung 4 / 5. Menge der Abstimmungen 25

Dies ist die erste Bewertung