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Navidad – Gastbeitrag von Gitanjali Escobar Travieso

Es war höchste Zeit, alles für Weihnachten vorzubereiten. Ich half Mutter, Karten zu schreiben und die Geschenke für meine Cousins und Cousinen zu verpacken. Ich beobachtete sie von der Seite; irgendwann merkte sie es und sah mich an. Ich wusste, sie fragte sich wieder, ob Vater dieses Mal zur Feier erscheinen würde. Jedes Jahr hatte er es versprochen, und jedes Mal waren wir wieder enttäuscht worden. Meinen Geschwistern war es mittlerweile egal, sie waren noch klein und kannten Vater ja kaum noch. Selbst mir fiel es zuweilen schwer, mich an ihn zu erinnern. Allzu lange schon war es her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Mutter allerdings hatte die Trennung nie ganz überwunden; sie hoffte immer noch, dass er irgendwann wieder zu uns zurück käme. Ein wenig geistesabwesend sortierte sie Kärtchen und Schleifen, während ich die Taschen für Caraballo packte.
Caraballo, das war das kleine Dorf im Osten, wo unsere Großmutter wohnte. Ein Dorf wie so viele andere auch, mit einer Kirche im Zentrum, einem großen gepflegten Park und wenig Verkehr; ein Dorf, wo die Menschen einander noch einen guten Morgen wünschten, wenn sie einander begegneten, oder einen guten Abend; wo sie dich noch ansahen auf der Straße und dir ein freundliches Lächeln schenkten – oder dir wenigstens zunickten, wenn der Tag nicht so gut war. Jedes Jahr zu Weihnachten traf sich unsere ganze Familie bei Großmutter auf dem Land. Wir Kinder liebten die Tage dort; es war eine Zeit der Unbeschwertheit und der Freiheit. Mit Neffen und Nichten, Cousins und Cousinen tobten wir über die Wiesen und Hügel; wir genossen die Natur und ließen uns inspirieren von den duftenden Orchideen, denn zirpenden Grillen und dem warmen Wind, der durch die Gräser strich. Träume und Phantasie ersetzten für ein paar glückliche Tage die Mauern der großen Stadt. Manchmal rannten wir mit den Hunden um die Wette, manchmal verfolgten wir die Katze; oft schleppten wir die Küken durch die Wiesen, während die alten Hennen laut gackernd hinter uns her schimpften.
Mutter sah uns gerne zu. Sie lächelte, aber ihre Augen waren doch traurig. Immer wieder wanderte ihr Blick zum Gartentor und dann darüber hinaus, in die Ferne. Ich wusste, sie dachte an Vater und hoffte wider besseres Wissen, dass er vielleicht doch noch käme. Doch Vater war weit weg, irgendwo in einem anderen Dorf, mit einer anderen Familie. Irgendwann, wahrscheinlich mit einem leisen Seufzer, zuckte Mutter resignierend die Achseln, winkte zu uns herüber und ging zu den anderen Frauen in die Küche. Ein Schwein war vorbereitet. Gut gewürzt mit Knoblauch und Zwiebeln wurde es auf einen Spieß gesteckt und über offenem Feuer gegrillt.
Großmutter hatte einen großen, wunderschön geschmückten Weihnachtsbaum auf der Terrasse aufgestellt. Als wir Kinder vom Laufen und Toben müde wurden, hockten wir uns im Kreis um den Baum herum und schwätzen, sangen und spielten, während wir auf das Essen warteten. Großmutter setzte sich irgendwann zu uns und erzählte fabelhafte Geschichten von wundersamen Tieren und seltsamen Menschen, denen wir wie jedes Jahr zu Weihnachten gespannt lauschten und von denen wir nie genug bekommen konnten.
Endlich war das Schwein fertig, knusprig, duftend und gar gegrillt. Wir aßen und tranken, scherzten und lachten. Für uns Kinder gab es kleine Geschenke, und dann wurden Bongos, Gitarren und Maracas in den Garten getragen Wir sangen und tanzten endlos lange zu ihren fröhlichen Rhythmen, bis auch Mutter irgendwann ihre Traurigkeit vergaß. Wir hatten viel Spaß und wurden nicht müde, bis wir irgendwann dann doch vor Erschöpfung einschliefen.
Vater hat uns auch auch diesmal nicht zum Weihnachtsfest besucht.
„Vielleicht nächstes Jahr“, sagte Mutter am nächsten Morgen und tröstet sich damit wohl selbst am meisten.
Wir Kinder wussten es besser, wir hatten uns mit Vaters Abwesenheit arrangiert. Und solange wir zu den Großeltern, Tanten und Cousins nach Caraballo fahren konnten, würde Weihnachten für uns immer die schönste Zeit des Jahres bleiben.

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