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Mixtapes II – 1970-1974

Ich war 1970 zehn Jahre alt und es gab tiefgreifende Veränderungen bei uns in der Familie:
Mein Bruder zog mit dem Tonband aus!
Das Zimmer meines Bruders wurde nun für meine Schwester und mich frei, aber mir fehlte er und der revoluzzende Grundton in der Wohnung.
Meine Mutter heiratete erneut und meine Schwester und ich bekamen das alte Radio meines Stiefvaters ‚geliehen‘. Doch die Radiosendungen boten uns nichts zu diesem Zeitpunkt und es stand nur rum. Meine Mutter, Jahrgang 1921, war zu diesem Zeitpunkt 49, und Werner Jahrgang 1911 war 59 Jahre alt.
Sehr viel Verständnis für kindlich- und jugendlichen Lärm, also auch Musik war ab nun nicht mehr zu erwarten. Direkt nach dem Einzug in das frisch himbeerfarben gestrichene Zimmer, ging auch noch meine Schwester für ein Jahr als Au-pair nach England. So machte sich Langeweile und Stille breit, ich fühlte mich allein gelassen, und an das Radio wagte ich mich nicht dran.

Ich hatte zudem gerade auf ein Mädchen-Gymnasium gewechselt und dort im ersten Jahr auch einen sehr speziellen Musikunterricht. Mein Musiklehrer, kurz vor Rente, mit einer Liebe zu dem im Musiksaal stehendem Cembalo mochte es, wenn wir sangen, während er uns am Cembalo begleitete. Er bemerkte nicht, dass die Klasse über ihn und mich lachte, wenn er mich mit: „Glöckchen, komm mal her“ zu sich rief. Ich weiß, es war nett gemeint, aber mein Gesicht brannte heiß und ich wurde immer verstockter. Das wirkte sich auf meine Note aus und es ist ein Wunder, dass mir damit das Singen nicht komplett vermiest wurde.

In der Quinta war unser Musiklehrer Herr Pietsch. Keine Chorgesänge mehr, wir erhofften neues Land zu entdecken. Herr Pietsch war ein schüchterner, pummeliger junger Mann, der die Angewohnheit hatte, sich zur Hälfte auf das Lehrerpult zu setzen, welches sehr nahe an der ersten Tischreihe stand. Wir litten sehr unter seiner sehr feuchten Aussprache und waren daher froh, wenn wir ernsthaft dem ‚Freischütz‘ von Carl Maria von Weber auf Platte hören durften. Solange redete Herr Pietsch nicht. Ich mochte daher Carl Maria von Weber.
An ein Volkslied, welches wir besprachen und sangen, erinnere ich mich gut. Es war ein Kriegslied, ohne heroisierenden Text, welches mit harter Lyrik den Tod beschrieb. „Flandern in Not – in Flandern reitet der Tod“ fand ich schön schaurig und auch der Text packte mich.

(… der Tod, er trommelt laut, der Tod schlägt auf eine Totenhaut, er trommelt leis, … Der dritte Wirbel ist leis und lind als wiegt eine Mutter in Schlaf ihr Kind …)
Als ich es zu Hause laut und begeistert sang, bekam ich es prompt verboten. Heute weiß ich, dass dies mir die Gräuel von Kriegen bewusster werden ließ. Nicht schlecht für einen jungen Lehrer, wirklich nicht schlecht.

James Last Big Band war bei uns zu Hause eher zu hören. Die großen TV-Lagerfeuer für die ganze Familie sorgten dafür. Ob Peter Alexander Show etc. ich schaute es mit der Familie. Ich genoss es einfach länger aufbleiben zu dürfen, die Musik war mir ziemlich egal.

Wum lud mich zum Mitsingen ein mit „Ich wünsch mir eine kleine Miezekatze für mein Wochenendhaus.“ Der Text wies bereits darauf hin, dass sich mein Musikgeschmack änderte. Loriot sei dank!

Endlich war meine Schwester wieder da, und als sie mit 19 Jahren von ihrem Freund eine kleine Single geschenkt bekam, kam damit auch endlich wieder „richtige“ Musik in die Wohnung. Ich war jetzt 13 Jahre alt.
Es war Nina Simone Don’t let me be misunderstood. Während sich die Single auf dem Plattenteller drehte, fragte ich mich oft, ist es ein Mann, der da singt? Aber da stand ‚Nina‘ auf dem Cover, und ich fand es einfach nur toll.

Jetzt dudelten auch wieder im Radio die Hausfrauensendungen, und wenn man Glück hatte, spielte es Reinhard Mey. Für mich war das die Entdeckung, wie fein die deutsche Sprache mit der Stilform der humorvollen Demaskierung den Finger in die Wunde legen kann. Spott ist immer ein scharfes Schwert. Habe ich mir gemerkt. Eine wichtige Lektion, der ich gern nacheiferte, und ich hatte in meiner Schwester die perfekte Sparringspartnerin.

Nach unserem Umzug nach Messel brachte meine Schwester Sybil eine LP mit nach Hause. Gilbert O’SullivanHimself. Darauf sah man einen Mann, mit Schirmmütze, dicken Hosenträgern, – kurz in Arbeiterkleidung. Der Hintergrund war eine Straßenansicht. Das war ein krasser Unterschied zu den prilblümchenbunten aufgeblasenen Bubblegum-Schriften und Gestaltung der Cover der Siebziger.

Natürlich legte ich die Platte nur in Abwesenheit von Sybil auf. Ich war verliebt. Punkt. Das hieß, ich musste die Platte besitzen. Ich fing an meiner Schwester Angebote zu machen. Ich breitete meine wenigen Habseligkeiten vor ihr aus – aber da war nichts dabei. Ein Zufall kam mir zur Hilfe.

In meiner Nachbarschaft wohnte meine Kunstlehrerin, die mich einlud, ein paar Sachen durchzusehen, ob ich sie haben mochte. 2 Kostbarkeiten fielen mir auf. Das war nun mein Einsatz für die LP. Für Liebe muss man eben Opfer bringen. Die beiden Sachen waren wirklich ganz einzigartig, und meine Schwester konnte nicht widerstehen, die Platte war meine.

Die 70ziger drehten nun voll auf. Lange Haare waren seit den 68ern nicht mehr der Aufreger, aber wenn sich jetzt männliche Künstler übertrieben schminkten, Föhnfrisuren trugen und Kostüme, die so bunt waren, enganliegend und so sehr glitzterten, dass die Kostümschneiderin sicher eine Schweißerbrille beim Nähen trug, dazu hohe Plateauschuhe. Ja, dass hatte den erwünschten Effekt.
Natürlich waren die Mädchen in meiner Klasse über neue Musik informiert, besonders über die BRAVO, und wir freuten uns an den Starschnitten und Musik von

The Sweet, dem schönen Marc Bolan von T-Rex.

Die meisten Mädchen schmachteten David Cassidy an. Auch Elton John begeisterte mich mit ‚Crocodile Rock‘. Gilbert O’Sullivan landete mit seinen Hit ‚Get Down‘ über viele Wochen in den Charts auf Platz 1.

Dann passierte für Jugendliche etwas Ungeheures: 1974 kam der erste Radiosender auf, der für Jugendliche im deutschsprachigen Raum englische Musik spielte (neben AFN).

Radio Luxemburg:
Den Empfang musste ich fein einstellen, und wenn abends der Rollladen zu weit herunter gelassen wurde, war nur noch ein Rauschen zu empfangen. So blieb der Rollladen immer auf „Empfang“. Frank Elstner war damals der Moderator, er war witzig und frech. Ein musikalischer Vorhang wurde uns aufgezogen, wir hörten auch Unbekanntes mit Interesse.

Gerade waren schmale Kassettenrecorder auf den Markt gekommen. Ich bekam tatsächlich einen zum Geburtstag und stand jetzt vor dem Problem: Wie komme ich an diese sündhaft teuren Kassetten? Ich bekam kein Taschengeld. Aber immerhin 2 Kassetten besaß ich.
Wer einmal versucht hat, die schweren Tasten genau in der Sekunde zu drücken, wenn das Lied im Radio beginnt und auf Stop zu drücken, bevor der Moderator wieder spricht, weiß wie schwer so etwas war. Man saß manchmal tagelang, sogar wochenlang an einer Kassette. Auch wenn die Jungs meiner Generation nicht tanzen konnten und eher maulfaul waren, eine solch zusammen gestellte Kassette von einem geschenkt zu bekommen, ersetzte heiße Liebesbriefe. Wir wussten das durchaus zu schätzen.

Mein Musikgeschmack nahm also weiter neue Elemente auf. Auf mich wartete der ganze Pompösrock der 70er und auch ein neuer deutscher Radiosender.

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