Alte Schule
Die Linde auf dem Platz vor dem Rathaus war größtenteils kahl. Tausend Jahre sind doch ein hohes Alter für einen Baum. In den letzten dreißig Jahren war die Linde weiter gestorben. Zweig für Zweig und Ast für Ast. Wenn er das nächste Mal hierherkam, würde sie vielleicht ganz verschwunden sein.
Aber die Geschäfte um den Lindenplatz waren immer noch die gleichen, wie zu seiner Schulzeit. Die Metzgerei, der Fischhändler, eine Drogerie. Die Zeit schien hier stehengeblieben zu sein.
Nur die Autos, die über das Granitpflaster holperten, sahen jetzt anders aus. Früher hatte er mit seinen Freunden darum gewetteifert, die unterschiedlichen Modelle schon aus der Ferne zu erkennen. Heute wirkten die Karosserien alle gleich. Aber das Spiel reizte ihn auch nicht mehr.
Der alte Teil der Schule sah noch aus, wie in seiner Erinnerung. Jedenfalls waren die Mauern immer noch hellbeige gestrichen, die Fensterumrandungen dunkel abgesetzt. Nur der Neubau hatte, statt seiner hässlichen Waschbetonfassade, jetzt verputzte und gestrichene Wände.
Die Bäume auf dem Pausenhof, um die er vor dreißig Jahren mit der Schulleitung gestritten hatte, waren groß geworden.
Er setzte sich auf eine der Rundbänke unter einer Kastanie und versuchte sich die Gesichter der Jungen und Mädchen ins Gedächtnis zu rufen, mit denen er damals den größten Teil seiner Zeit verbracht hatte.
Es gelang ihm leicht. Aber was er sich gar nicht vorstellen konnte, waren ihre um dreißig Jahre gealterten Gesichter. Mit Sicherheit hätte er niemanden auf der Straße wiedererkannt.
Außer Norbert. Der hatte sich kaum verändert, wenn man dem Foto auf seiner Webseite glauben durfte. Und er war der Freigeist geblieben, der er schon immer gewesen war.
Stefan? Ein Sozialarbeiter. Der sudetendeutsche Nachname war selten und sein Besitzer deshalb leicht aufzuspüren.
Katrin? Eine Künstlerin. Das passte zu ihr.
Beate? Lebte seit kurz nach dem Abitur in einem Kloster. Er fragte sich, was eine junge Frau hinter hohe Klostermauern trieb. Er würde es nie erfahren.
Susanne? Eine Spezialistin für Japan und die japanische Sprache. Nichts hatte während ihrer Schulzeit auf diesen Weg hingewiesen.
Und Gonzo? Ein Musik-Redakteur. Na klar. Was sonst?
Ob er sie gerne wiedergesehen hätte? – Auf keinen Fall für dieses bescheuerte „Mein Auto, mein Haus, mein Boot“-Spielchen. – Oder würde da doch noch mehr sein?
Aber er hatte neue Freunde gefunden. Andere Menschen, mit denen er heute seine Zeit verbrachte. Keine Zwangsgemeinschaft, sondern Wahlverwandtschaften.
Bei diesem Stichwort fiel ihm sein Deutschlehrer ein. Ob es ihn interessieren würde, was aus seinem ehemaligen Schüler geworden war? Leicht hatten sie es nicht miteinander gehabt.
Etwas zupfte an seinem Ärmel und holte ihn in die Realität zurück. „Auf den Kopf stellen. Biiitte!“
Leo hatte die ganze Zeit neben ihm gesessen und sein Schweigen geteilt. Sie waren schon immer gut darin gewesen, gemeinsam zu schweigen.
Das Mädchen stellte sich mit dem Rücken zu ihm. Er fasste sie an den Hüften, hob sie hoch und drehte sie, so dass sie mit dem Kopf nach unten hing. Sie quiekte und ließ ihre Hände baumeln. Dann zog sie langsam die Arme hoch und presste sie an ihren Körper.
Ihre Haare streiften über eine Pusteblume, die sich zwischen den Ritzen der Pflastersteine hindurch gezwängt hatte. Die Samen flogen auf und sie blies die kleinen Fallschirmchen weg, so dass sie ihr nicht in Mund und Nase geraten konnten.
Überrascht stellte er fest, wie schwer sie geworden war. In einem Jahr würde er sie nicht mehr so ohne weiteres halten können. Aber dann würde sie auch kein kleines Mädchen mehr sein, das Spaß daran fand, sich die Welt auf dem Kopf zu betrachten.
„Umdrehen!“
Er stellte sie wieder auf die Füße. Sie zog sich die verrutschte Hose hoch und das T-Shirt nach unten.
„Du solltest mal einen Gürtel nehmen, sonst hab ich irgendwann nur noch deine Jeans in der Hand.“
Leo kicherte: „Du lässt mich schon nicht fallen.“
Er schwieg einen Moment. – „Nein, ich lass dich nicht fallen“, sagte er schließlich.
Ihr Gesicht entspannte sich. „Jetzt ein Eis!“
Er überlegte kurz und entschied sich dann für die Gaststätte neben dem Campingplatz, direkt unten am Fluss. Da konnte man draußen sitzen und den Schiffen zusehen.
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