4.6
(7)

Oma und Julia auf Reisen
oder Verbotene Früchte

Julia sitzt am Fenster mit einem Buch in der Hand. Ab und zu schaut sie mürrisch nach draußen. Es regnet schon seit zwei Stunden – und wie! Immer wieder wirft der Wind laut prasselnde Regenschauer an die Glasscheibe, sodass Julia jedes Mal unwillkürlich zusammenzuckt. Sie seufzt, schlägt das Buch zu und wendet sich an ihre Oma, die es sich in dem Ohrensessel gemütlich gemacht hat und ebenso ein Buch liest.
„Mir ist langweilig.“
Die Großmutter legt ihre Lektüre zur Seite und sieht ihre Enkeltochter an. „Der Regen hört bestimmt bald auf.“ Dann fügt sie nachdenklich hinzu: „Weißt du was – wir könnten ja in der Zeit eine kleine Reise machen.“
„Eine Reise?“ Das Mädchen versteht nicht. „Bei dem Wetter?“
„Das Wetter kann uns überhaupt nichts anhaben, denn es wird eine besondere Reise sein. Eine, die kein Fahrzeug braucht, sondern nur die Kraft unserer Vorstellung.“
Julia ist neugierig: „Wohin soll es denn gehen?“
„Tausende Kilometer weg von hier – in ein weites Land und in ein Leben, das ganz anders ist, als du es gewohnt bist.“
„Ah, ich weiß schon – wir besuchen Russland, wo du, Oma, geboren bist. Stimmts?“, lacht die Zehnjährige auf. „Das wird bestimmt spannend.“
„Dann machen wir uns auch gleich auf den Weg – in das kleine Dorf in Westsibirien.“
„Wie war denn da das Wetter im Sommer? Kalt?“, will Julia wissen.
„Nein, überhaupt nicht. Meistens war es sonnig und heiß. Auf jeden Fall wärmer als hier. Wie du dir denken kannst, war ich dann mehr draußen als drinnen, besonders wenn wir schulfrei hatten. Du musst wissen, die Sommerferien in Russland dauern immer von Juni bis Ende August, also drei Monate. Obwohl ich gern die Schule besuchte, freute ich mich genauso sehr, wenn das Schuljahr zu Ende war. Das bedeutet aber nicht, dass ich keine Pflichten hatte. Im Dorf mussten die Kinder, sobald sie dazu in der Lage waren, den Erwachsenen helfen. Vielleicht kannst du dir vorstellen, was das für Arbeiten waren …“ Oma sieht ihre Enkelin fragend an.
„Ich denke, du musstest im Garten helfen“, überlegt Julia.
„Ja, das auf jeden Fall, aber es gab auch genug andere Arbeiten, zum Beispiel, Wasser von der Wasserstelle holen, Wäsche aufhängen, oder – als ich schon älter wurde und größere Hände hatte – die Kuh melken und die Milch durch einen Separator laufen lassen; auf diese Weiße wurde sie in Sahne und Molke getrennt. Meine Aufgabe war dann oft, einen Teil der schon sauer gewordenen Sahne – den Schmand also – in einem speziellen Fass zur Butter zu schlagen – das war ganz schön mühsam. Nicht zu vergessen die Hausarbeiten – putzen, Fußboden wischen, Geschirr spülen.“
„Oh, das war aber viel, was du alles zu tun hattest!“ Julia schaut ihre Großmutter mitfühlend an.
„So schlimm war es auch wieder nicht“, beruhigt sie Oma, „ich hatte doch noch Geschwister, die ebenso an den Arbeiten beteiligt waren. Es blieb noch genug Zeit zum Spielen und Spaß haben, im Wald Pilze und Erdbeeren sammeln, zum Baden.“
„Wo hast du denn gebadet, hattet ihr ein Schwimmbad oder lag das Dorf an einem Fluss?“
„Nichts dergleichen. Aber es gab einen Baggersee, den die Bewohner Kotlowan nannten. Ziemlich groß und tief war er einer der größten Vergnügungsplätze für die Dorfkinder. Im Winter gefror das Wasser und bildete eine dicke Eisschicht; darauf konnte man wunderbar Schlittschuh laufen oder Hockey spielen.
Wir verbrachten auch gern die Zeit im Wald – auf der Suche nach Erdbeeren und Pilzen. Die Walderdbeeren sind ja viel kleiner als die, die im Garten gezüchtet werden, schmecken dafür aber umso besser.“
„Ich gehe auch manchmal mit Mama und Papa in den Wald Pilze sammeln. Und ich habe auch schon Waldbeeren probiert – die sind wirklich lecker. Hattet ihr auch einen Garten mit Obst und so?“
„Ja, jede Familie im Dorf besaß ein eigenes Haus und anliegend einen kleinen Obstgarten – mit Himbeer-, Stachelbeer- oder Johannisbeersträuchern und Apfelbäumen. Auch die sibirischen Äpfel sind kleiner als die normalen, obwohl es verschiedene Sorten davon gibt. Die kleinsten sind vielleicht vergleichbar mit einer Kirsche, die größten mit einer Aprikose und jede Sorte hat ihren eigenen Geschmack. Im Dorf gab es noch einen großen Gemeinschaftsobstgarten, in den man allerdings nicht so ohne weiteres hineinkam, weil er bewacht wurde. Trotzdem war es ein besonderes Abenteuer für die Dorfkinder, sich in den bewachten Obstgarten zu wagen, denn da schmeckte das Obst am besten. Ist doch klar, wenn man an den Ausdruck ‚verbotene Früchte‘ denkt.“ Die Großmutter zwinkert ihrer Enkeltochter zu.
„Oh nein!“ Julia macht ein ungläubiges Gesicht, obwohl sie schon ahnt, was kommt, und ruft lachend aus: „Du hast geklaut! Echt jetzt?“
„Ganz echt. Möchtest du diese Geschichte hören?“
„Klar doch! Dann kann ich sie auch meinem Papa erzählen, damit er weiß, was seine Mama früher angestellt hat.“ Julia bricht in Gelächter aus.
Die Großmutter senkt den Kopf und seufzt gespielt beschämend.
„Na gut. Also … Es war ein schöner sonniger Herbsttag und ich sechs Jahre alt. Mit wem ich auf dem Streifzug durch den großen Garten unterwegs war, kann ich nicht genau sagen, vermutlich mit der damals achtjährigen Mascha. Jedenfalls hatten wir unsere Unterhosen mit Äpfeln gefüllt …“
Julia schaut ihre Oma verdattert an. „Hä?“
Die Großmutter kichert. „Oh, das muss ich dir erst einmal erklären. Es war nämlich so: In den Sommerkleidchen der kleinen Mädchen befanden sich meist keine Taschen, ihre Schlüpfer hatten dafür längere Hosenbeine mit Gummizug am Rand. Ja, richtig – darin ließ sich wunderbar so einiges verstauen – nicht nur Äpfel.“
Julia schüttelt immer noch ungläubig den Kopf, sagt jedoch nichts.
Oma fährt fort: „Wir waren mit unserer Beute sehr zufrieden und befanden uns schon auf dem Rückweg, als ein ungewöhnlicher Apfelbaum meine Aufmerksamkeit erregte. Er war viel niedriger und auch breiter als die anderen, seine Äste (leider ohne Äpfel, wie ich sofort sah) hingen bis zum mit Gras bewachsenen Boden herunter. Obwohl wir uns beeilen mussten, konnte ich meiner Neugier nicht widerstehen: Ich schob die Äste beiseite und kroch unter den Baum, weil ich hoffte, darunter vielleicht doch noch ein paar Fallfrüchte zu finden. Und tatsächlich, da lag er – ein Apfel! Ja, kein Äpfelchen, sondern ein richtiger Apfel, fast so groß, wie einer von diesen, die es manchmal im Dorfladen zu kaufen gab. Meine Augen wurden vor lauter Freude und Staunen wahrscheinlich genauso groß wie der Apfel – ich schnappte ihn mir, erhob mich … und da hörte ich auch schon das wütende Geschrei des Wächters, der gerade seine Runde drehte, und die Geräusche seiner großen Rassel, die er zur Abschreckung der gierigen Vögel, aber auch der Diebe benutzte.
Mascha und ich rannten los, hinaus aus dem Obstgarten und über den Graben hinweg, der ihn von allen Seiten umschloss. Obwohl er nicht besonders tief war und zum Glück trocken, stellte er doch ein gewisses Hindernis für ein Kind dar, und – wie konnte es anders sein? – ich stolperte und stürzte kopfüber in die Senke. Mir wurde schwarz vor Augen. Meine Begleiterin schrie panisch: „Schnell, schnell!“ Sie ließ mich nicht im Stich, reichte mir ihre Hand, zog mich empor und wir setzten unsere Flucht fort …“
Oma macht eine Pause und Julia sieht sie erwartungsvoll an.
Als ob sie die unausgesprochene Frage des Mädchens lesen konnte, sagt die Großmutter: „Nein, der Wächter hat uns nicht eingeholt, aber ich nahm ihm die Sache ziemlich übel, vor allem, weil er mein Stiefgroßvater war. Er hätte seine Enkeltochter nicht so jagen dürfen. Das Schlimmste jedoch war – ich verlor im Graben den schönen, großen und den bestimmt leckersten Apfel der Welt und dem trauerte die kleine Rosa besonders lange nach.“
„Ach, Oma! Wie schade! Ich hätte auch gern gewusst, ob der Apfel wirklich gut geschmeckt hat.“
„Ja, aber das Schöne ist doch – ich habe dieses Erlebnis in guter Erinnerung behalten, und nun kann ich auch dir davon erzählen.“
„Das stimmt. Hast du noch mehr solcher Geschichten im Kopf?“
Die Großmutter lächelt. „Da wird sich bestimmt noch einiges aus den Tiefen der Zeit herauszaubern lassen, aber darüber reden wir nächstes Mal. Du wirst sicher gleich abgeholt.“
Wie aufs Stichwort klingelt es an der Tür.
„Ich mache auf! Das ist Papa!“ Julia läuft ganz aufgeregt in den Flur. In Gedanken legt sie schon zurecht, was sie ihren Eltern erzählen wird – über die so unglaublich alten Zeiten in Sibirien und vor allem über die kleine Rosa.

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Mehr über Rosa findet Ihr auf Ihrem Blog:

https://rosasblog54.wordpress.com/2020/03/05/die-reise-nach-sibirien/

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