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Das Licht im Fenster meiner Babuschka – Gastbeitrag von Katharina Martin-Virolainen

Der Busfahrer freute sich sichtlich über ein wenig Gesellschaft auf seiner letzten Dienstfahrt. Wahrscheinlich hatte er zu dieser späten Stunde gewöhnlich nicht besonders viele Fahrgäste. Auf der Fahrt von der Stadt zu meinem ehemaligen Heimatdorf erzählte er mir ununterbrochen irgendwelche Anekdoten aus seinem beruflichen Leben. Er gab sich größte Mühe mich zum Lachen zu bringen. Anfangs war ich noch skeptisch gewesen, als er mit seiner rostigen Kiste vorgefahren kam. Doch schon nach wenigen Minuten hatte ich mich völlig entspannt zurückgelehnt und lauschte amüsiert seinen verrückten Geschichten zu.
Der Busfahrer erklärte sich bereit extra für mich an der Schkolnaja (so hieß meine Zielstraße) anzuhalten. Er hielt sein Wort und ich ließ ihm als Trinkgeld einen 200-Rubel-Schein da. Ich hatte kein Kleingeld mehr und wollte ihn für den Umweg, den er auf sich genommen hatte, ein wenig entschädigen. Er fiel beinahe von seinem Fahrersitz, zog seine Käppi vom Kopf und bedankte sich überschwänglich.
„Gott soll dich segnen, mein Kind!“, rief er mir mit Tränen in den Augen hinterher.
Während ich mit der einen Hand eilig meine Mütze über die Ohren streifte, winkte ich ihm mit der anderen zum Abschied. Der alte Bus fuhr mit brüllendem Motorgeräusch davon.
Der Frost und die Kälte ließen mir den Atem stocken, ziepten an meiner Nase. Solche Temperaturen war ich nicht mehr gewohnt. Der karelische Winter war nicht nur wunderschön weiß und verschneit, sondern auch erbarmungslos kalt und frostig.
Die Straße war dunkel und menschenleer. Die einzige Laterne, neben dem kleinen Einkaufsladen an der Straßenecke, schaukelte traurig ihren leuchtenden Kopf hin und her. Als ich in Dunkelheit hineinblickte, wurde mir ein wenig mulmig. Die unbeleuchteten Straßen war ich ebenfalls nicht mehr gewohnt. Bei uns in Deutschland mangelt es nicht an Straßenbeleuchtung. Eine Selbstverständlichkeit, über die wir uns nicht einmal den Kopf zerbrechen würden.
Ich freute mich über die sanften Lichter in den kleinen Fenstern der Häuser. Sie ähnelten ein wenig den Sternen am Himmel. Mit den Lichtern war es nicht ganz so gruselig. Irgendwo am Ende der Straße musste auch das Licht im Fenster meiner Babuschka sein.
Babuschka – so nannten wir in Russland unsere Großmütter. In Deutschland hatte ich meine deutsche Oma und in Russland lebte meine russische Babuschka.
Der Vollmond blickte traurig auf die vereiste Erde. Die Schkolnaja versank in einem blassen, hellbläulich-silbernen Schimmer. Der Nordwind hatte sich gelegt und überließ dem Frost die Bühne. Es war so bitterkalt, dass es mir Tränen in die Augen trieb. Wie konnten wir früher bei diesen Temperaturen den ganzen Tag draußen im Schnee toben? Unvorstellbar!
Der Asphalt war mit Schnee und Eis bedeckt. Doch die Unebenheiten deuteten darauf hin, dass auf der ehemals gleichmäßigen und glatten Straße mit der Zeit tiefe Risse und Löcher entstanden waren. Die Schkolnaja gehörte in meiner Kindheit zu den wenigen Straßen in unseren Dorf, die asphaltiert gewesen waren. Die Straße, in der ich lebte, hatte keine Asphaltbeschichtung. Mit der Zeit wurde sie von den fahrenden Autos und Lastwagen ruiniert. Es entstanden tiefe Krater, die sich im Herbst und Frühjahr mit Wasser gefüllt hatten, und über die wir mit hoher Geschwindigkeit mit unseren Fahrrädern geflitzt waren.
Im Sommer blieben wir, Kinder, solange draußen bis es dunkel wurde. An warmen Tagen legten wir uns auf den Asphalt, schauten zum schwarzen Himmel hinauf, zählten die Sterne und träumten von Sternschnuppen, damit wir uns was wünschten konnten. Im Winter fuhren wir mit den Schlitten, liefen auf unseren Skiern, bauten Schneemänner und Burgen aus Schnee. Wir froren uns beinahe die Gliedmaßen ab, doch keiner von uns wollte ins Haus gehen, weil wir ganz genau wussten, dass man uns hineinjagen würde, damit wir uns ein wenig aufwärmen.
Die Umrisse des Hauses meiner Babuschka tauchten aus der Dunkelheit hervor. Ich wurde nervös. Ob sie mich überhaupt erkennen würde? Ich war längst nicht mehr das kleine Mädchen mit dünnen Zöpfen und einer überdimensionalen Brille. Nun war ich erwachsen, trug Kontaktlinsen, mein Haar zu einem strengen Knoten am Nacken zusammengebunden. Ich war in eine dicke Winterjacke eingepackt, die Haare und die Ohren unter einer großen Strickmütze versteckt. Den Schal fast bis zur Stirn hochgezogen.
Ich kam immer näher. Der Schnee quietschte unter meinen Füßen. Mein Herz begann heftig zu klopfen. Als ich an ihrem Fenster vorbeilief, spielte ich für einen Moment mit dem Gedanken in ihre Küche hineinzuschauen. Doch ich hielt mich zurück. Nein, die paar Minuten, sogar Sekunden, würde ich noch aushalten können.
Die Holzstufen im Treppenhaus waren so alt, dass ich Angst hatte, sie würden unter mir durchbrechen.
Da war ich. Vor ihrer Tür. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich konnte kaum noch etwas sehen. Sollte ich anklopfen? Oder einfach eintreten? Vorsichtig drückte ich gegen die Tür und sie öffnete sich. Babuschka hatte auf mich gewartet. Die Tür war nicht abgesperrt. Wie früher …
Mir schlugen die Wärme des Holzofens und der Duft von Piroggen mit Moosbeeren entgegen. So, wie wir sie in meiner Kindheit mit Babuschka immer gebacken hatten. Mein Blick wanderte in die Küche, und da war sie… Meine Babuschka Tamara.
Sie saß in ihrem gemusterten Kleid am Küchentisch, ein warmer Schal lag auf ihren Schultern. Nachdenklich blickte sie zum Fenster hinaus. Aus dem kleinen, noch aus der Sowjetzeit stammenden Radio ertönte ein trauriges Lied. Sie hörte ihre abendliche Musiksendung. Vermutlich hatte sie mich deshalb nicht reinkommen hören. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Da war sie… Meine geliebte Babuschka, die ich seit über zwanzig Jahren nicht gesehen habe. Seit wir uns damals am Hauptbahnhof von Petrosawodsk für immer verabschiedet hatten. Wir gingen nach Deutschland – doch sie durfte nicht mit. Weil sie eine Russin war. Aber meine andere Oma, die schon seit vielen Jahren in Deutschland lebte, war eine Deutsche. Wie mein Papa auch. So wie ich und mein Bruder auch. Deshalb durften wir nach Deutschland. Meine Mama durfte mit, weil sie meine Mama war, nur Oma musste allein zurückbleiben. Ohne ihre Tochter, ohne die geliebten Enkelkinder.
„Sobald wir auf den Beinen stehen, werden wir sie für ein paar Wochen zu uns holen“, versprachen mir damals meine Eltern. Mir und auch sich selbst. Wir alle wollten daran glauben, dass der Abschied nicht für immer gewesen war. Sie würde niemals nachkommen können. Sie würde für immer in Russland bleiben. Aber irgendwann sollte sie uns besuchen kommen. Immer wieder tröstete ich mich mit diesem Gedanken.
Wie sehr vermisste ich meine geliebte Babuschka in den ersten Monaten in Deutschland. Meine Babuschka, die mein ganzes Leben an meiner Seite war. Ich konnte ihr alles erzählen, sie in all meine Geheimnisse einweihen. Sie war immer auf meiner Seite gewesen, sie hörte mir zu, brachte mir so viele Sachen bei.
Immer wieder träumte ich von einem Wiedersehen, malte mir aus, wie sich das abspielen würde. Ich stelle sie mir lachend und mit Freudentränen in den Augen vor … Ja, irgendwann würde es zu einem Wiedersehen kommen. Nun habe ich das endlich geschafft! Nach über zwanzig Jahren!
„Babuschka“, rief ich leise nach ihr. Meine Stimme versagte. Doch sie hörte mich nicht und blickte weiter nachdenklich aus dem Fenster. Sie seufze dabei schwer. Als würde sie auf jemanden warten. Auf mich? Auf wen sonst!
„Babuschka“, rief ich sie erneut und trat langsam vor. Nur noch einen Meter war ich von ihr entfernt. Ich streckte die Hand nach ihr aus. Gleich würde sie sich umdrehen, mich erblicken, in Tränen ausbrechen und dann würden wir bis in die Morgenstunden in ihrer kleinen Küche sitzen, gemeinsam Tee trinken, die Piroggen mit den Moosbeeren essen und reden, reden, reden. Über alles reden, was wir in den letzten zwanzig Jahren verpasst hatten.
„Babuschka“, rief ich nach ihr, meine Stimme drohte wieder zu versagen. Und als sie sich endlich zu mir umgedreht hat, machte mein Herz einen Sprung! Endlich! Ich habe es geschafft! Ich habe es endlich zu ihr geschafft. So viele Jahre der Trennung und endlich sehen wir uns wieder! Sie lächelt mich an, steht von ihrem Stuhl auf, sie kommt auf mich zu, will mich in den Armen nehmen und dann …

… wache ich auf.

Ich starre in die Dunkelheit meines Schlafzimmers hinein und versuche mich mit aller Kraft noch ein wenig im Traum aufzuhalten. Ich rufe mir die Umrisse der Küche meiner Babuschka in Erinnerung. Den Duft der Piroggen mit Moosbeeren. Das Muster ihres Kleides und die Farbe ihres Schals. Ich versuche mich an ihre Augen, ihr Lächeln, ihre warmen Hände zu erinnern. Doch der Traum verflüchtigt sich nach und nach. Langsam kehre ich in meine Realität zurück. Nun bin ich nicht mehr im Haus meiner Babuschka, sondern liege im Bett, in meinem Schlafzimmer, in meinem Haus, in meiner neuen Heimat Deutschland.
Es fällt mir schwer mich von diesem Traum zu lösen. Kann ich doch nur noch in Träumen bei meiner geliebten Babuschka sein.
Im August 1997 siedelten wir nach Deutschland um. Drei Monate später, Ende Oktober des gleichen Jahres, starb meine Babuschka Tamara. Völlig unerwartet. Sie war gerade mal 57 Jahre alt. Sie starb an gebrochenem Herzen, wie ihre Schwestern sagten.
Unsere Pläne, dass wir sie für ein paar Wochen zu uns zu Besuch holen würden, meine Pläne, dass ich meine Sommerferien bei ihr in Russland verbringen würde, meine Vorstellungen, wie ich ihr aus Deutschland meine Briefe senden und über mein Leben erzählen würde … all das ist nur in meinen Träumen geblieben.

Ja, unsere Träume und Erinnerungen an unser früheres Leben: Sie begleiten uns bis heute. Erinnerungen an all das, was wir zurücklassen mussten. Unsere Liebsten, unser Elternhaus, die geliebten Haustiere, denen wir nicht erklären konnten, wohin wir von einem Tag auf den anderen verschwunden sind. Wir mussten unsere Freunde, die Schule, die Arbeit und alles, was uns teuer und wichtig war, verlassen. Aber nicht vergessen.
All das lebt in unseren russlanddeutschen Herzen weiter. Die Wälder und Weiten Sibiriens, die Steppe und der Wind Kasachstans, die Seen und Polarlichter Kareliens. In den Stimmen der Menschen, die wir geliebt haben und bis heute noch lieben, selbst, wenn sie nicht mehr da sind.
Unsere Erinnerungen sind wie diese sanften Lichter in den kleinen Häusern, die sich entlang der verschneiten Straßen aneinanderreihen. Und jeder von uns hat irgendwo sein eigenes kleines Licht. Ein Licht, dass uns durch unser Leben begleitet und uns nicht vergessen lässt. Ein kleiner Funken in einem großen Meer der Erinnerungen, die sich miteinander vermischen.
Und doch erscheint uns das eine Licht immer heller und wärmer als die anderen. Weil es das unsere ist. Das Licht, was Hoffnung und Zuversicht gibt, dass uns zu verstehen gibt, dass immer für uns brennen wird. Ob im wahren Leben, oder nur in unserer Erinnerung.
Wie das Licht im Fenster meiner Babuschka.

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