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Winterkatzen – Gastbeitrag von Bernd Debus

(Die Bilder der Geschichte stammen aus Erzählungen, die Handlung aber ist reine Fiktion . Die Kinder waren ca. 12 Jahre alt.)

 

Gerd lauschte in die Dunkelheit. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Da war es wieder. Ein Schluchzen und Schniefen. Ab und zu ein Schluckauf und ein raschelndes Geräusch.

Er tastete im Dunkeln nach der Kerze, die in einem Blumentopfuntersetzer aus Ton klebte und den Streichhölzern. Als die Kerze brannte, krabbelte er aus dem Schlafsack und zog seine Hose an.

Die weiß getünchten Wände des Kellers, in den sie sich über Nacht zurückgezogen hatten, reflektierten das flackernde Licht. Das Regal mit den Konservendosen und Einmachgläsern warf lange Schatten.

Wenigstens hatten sie sich gestern Abend satt essen können. Das Haus über ihren Köpfen war zerstört, aber der Keller stand noch. Nachdem sie die Außentreppe entdeckt und von Schutt befreit hatten und Paul die Tür eingetreten hatte, eröffnete sich ihnen ein wahres Schlaraffenland.

Die Hausbesitzer würden keinen Anspruch mehr auf ihre Vorräte erheben. Als sie in der Dämmerung angekommen waren, hatten sie die Grabstellen im Garten gesehen. Vier flache Hügel von unterschiedlicher Länge zwischen einem Sandkasten mit abblätternder Farbe und einer Kinderschaukel, die am untersten Ast einer Kastanie aufgehängt war.

Paul schnarchte leise in seiner Ecke. Emmas Lager war verlassen.

Gerd folgte den Geräuschen durch mehrere Kellerräume. Er fand Emma schließlich in einer kleinen Kammer, die mit allerlei Gerümpel voll gestellt war. Sie saß auf dem Boden und ihr Rücken lehnte an den Resten eines zerbrochenen Sessels.

Zwischen ihren ausgestreckten Beinen stand eine Blechdose. Drumherum lagen eine rote Stoffschleife und braunes Geschenkpapier mit grünen Tannenbäumen darauf.

Er setzte sich neben sie und zog sie an sich. Emma lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

„Entschuldigung, wenn ich dich geweckt habe.“ Sie zog die Nase hoch. „Ich hätte die Türen zu machen sollen.“

„Dann hätte ich dich nicht gefunden“, sagte Gerd und zubbelte ein Taschentuch aus seiner Hose, um es an sie weiter zu geben. Emma schnäuzte sich die Nase und wischte sich über das Gesicht.

Er wies auf die Dose: „Was ist das?“

Emma öffnete den Deckel. In der Dose waren säuberlich Weihnachtskekse gestapelt, die verführerisch nach Vanillearoma und Mandeln dufteten.

„Wo hast du die denn her?“

„Sie standen ganz hinten in dem Regal mit den Konserven. Wahrscheinlich sollten sie ein Weihnachtsgeschenk sein. Sie sind selbst gebacken und …“

Emma schluchzte. Gerd ließ sie weinen und streichelte ihr den Rücken, bis sie sich wieder beruhigte.

„Haben deine Eltern auch Plätzchen gebacken, zu Weihnachten?“, fragte er mit leiser Stimme.

Sie nickte und wischte sich mit Gerds Taschentuch über das Gesicht, was alles nur noch schlimmer machte.

„Als ich den Deckel aufgemacht habe, da roch das genau wie Mamas Weihnachtsplätzchen. Und da hatte ich mit einem Mal solche Sehnsucht. Ich musste einfach weinen und dann konnte ich gar nicht mehr aufhören. Ich wollt euch nicht stören, deswegen bin ich hierher gegangen.“

Emma biss sich auf die Unterlippe und Gerd streichelte ihr weiter den Rücken.

Plötzlich zuckte er zusammen und hielt ihr seine Hand auf den Mund.

Emma lauschte, hörte aber nichts, außer dem Pochen ihres eigenen Herzens.

Gerd nahm langsam die Hand weg und griff nach dem Untersetzer mit der Kerze. Dann zog er sie am Ärmel auf die Beine und schob sie in Richtung Ausgang.

Sie drückten sich gegen die kalte Betonwand. „Hast du den Raum kontrolliert, bevor du reingegangen bist?“, fragte er im Flüsterton.

Emma schüttelte den Kopf. „Warum sollte ich? Wir haben doch alle Räume untersucht, bevor wir uns im Vorratskeller einquartiert haben.“

„Wer war hier hinten?“, fragte Gerd.

„Paul“, sagte Emma. „Was hast du denn gehört?“

Gerd zuckte mit den Schultern. „Wenn ich das wüsste. Aber da drin ist etwas. Es hat sich bewegt. Hast du es nicht gehört?“

Emma schüttelte den Kopf. „Ich glaub nicht, dass es etwas Gefährliches ist. Ein Mensch kann sich da nicht verstecken. Dafür ist der Raum zu klein. Eine Ratte vielleicht.“

Sie schauten beide durch die Türöffnung in die Kammer. Nichts. Nur die Keksdose mit dem Geschenkpapier und der Schleife.

„Lass uns nachsehen“, sagte Emma.

„Und wenn es eine Ratte ist?“

„Die wär doch längst abgehauen. Wo hast Du das Geräusch gehört?“

Gerd wies auf die rechte hintere Ecke.

Sie räumten zusammen das Gerümpel aus dem Weg, stets sprungbereit, falls es doch eine Ratte sein sollte.

Schließlich kam ein Sack mit alten Kleidern zum Vorschein. Die Jute war zerrissen und auf einem Wollpullover von undefinierbarer Farbe lag eine Katze mit ihren Jungen. Die Kätzchen waren höchstens einige Tage alt. Sie hatten noch die Augen geschlossen.

Die Alte beäugte die Störenfriede und ließ ein Fauchen hören.

Emma ging in die Hocke und Gerd setzte sich neben sie. Er musterte den Wurf und zählte mit dem Finger: „Es sind fünf“, sagte er.  „Erstaunlich, das ganze Dorf ist zerstört und dann sucht sie sich solch einen Platz aus, um ihre Jungen zur Welt zu bringen.“

Emma sah ihn lange an: „Das Leben bleibt nicht einfach stehen, nur weil die Welt um uns herum in Stücke fällt.“

Die beiden schwiegen und betrachteten die Kätzchen. Drei waren braun und hatten ein Tigermuster aus schwarzen und weißen Streifen. Eines war hauptsächlich weiß mit einem schwarzen Kehlfleck und einer schwarzen Schwanzspitze. Das fünfte war völlig schwarz.

„Sie sieht hungrig aus“, sagte Gerd. „Was meinst du, mögen Katzen Kekse?“

Emma griff in die Dose, nahm ein Stück Spritzgebäck heraus und brach etwas davon ab. Sie bewegte vorsichtig ihre Hand mit dem Gebäck in Richtung des Katzenkopfes. Das Tier ließ sie nicht aus den Augen. Dann zogen die spitzen Zähne das Gebäck zwischen ihren Fingern hervor.

Emma brach ein neues Stück ab und fütterte die Katze weiter. Zu Gerd meinte sie: „Guck mal nach, ob es im Vorratskeller irgendwelche Fleischkonserven gibt. Und bring eine Schale mit Wasser.“

Als Gerd zurückkam, balancierte er auf einem Holztablett, das er im Regal mit den Dosen gefunden hatte, drei Einmachgläser mit gekochten Fleischabfällen und einen alten Porzellanteller mit Wasser. „Ich denke, das Fleisch war für die Katze“, sagte er. „Also ich würde das nicht essen.“

„Noch nicht“, sagte Emma und dann sahen sie schweigend dem Tier zu, wie es fraß.

Als die Katze satt war fragte er: „Und was ist mit mir?“

Emma schob ihm die offene Keksdose zu.

Er nahm einen und biss hinein. „Hmm, lecker“, sagte er. Er hielt den angebissenen Keks Emma hin.

Danach war sie es, die ein Plätzchen aussuchte und so machten sie es, bis die Dose halb leer war. „Wir müssen was für Paul übrig behalten“, sagte sie. „Und jetzt lass uns wieder schlafen gehen.“

Im Vorratskeller setzte sie sich auf ihr Lager. „Kommst du zu mir rein?“, fragte Emma und hielt ihren Schlafsack auf, der sowieso viel zu groß für sie war. Sie zogen beide ihre Hosen aus, rollten sie zu Kopfkissen zusammen und drückten sich dann aneinander, um wieder warm zu werden.

Bevor sie im Morgengrauen mit prall gefüllten Rucksäcken aufbrachen, sahen sie noch mal nach den Katzen. Die Kleinen schliefen und ihre Mutter öffnete nur träge ein Auge, als die drei den Raum mit dem Gerümpel betraten.

Emma näherte vorsichtig ihre Hand und als sich keine Tatze erhob, streichelte sie das Tier hinter den Ohren. Die Katzenaugen schlossen sich und ein leises Schnurren war zu hören.

Es war so kalt in dem Keller, dass ihr Atem dampfte. Emma hatte in einem anderen Kellerraum eine Kiste mit angeschlagenen Steingutschüsseln gefunden, die offensichtlich aussortiert worden waren. Sie verteilte den Inhalt der drei Einmachgläser auf die Schüsseln und reihte sie auf dem Fußboden auf.

„Puh“, sagte Paul. „Das wird aber ganz schön stinken!“

Emma schüttelte den Kopf. „Es ist zu kalt. Das Futter gammelt nicht. Und davon kann sie bestimmt eine Woche leben. Danach muss sie wieder jagen gehen.“

Als sie vor der Hintertür standen, die nach draußen führte, fragte Paul: „Sollten wir sie nicht doch mitnehmen? Wer weiß, ob sie das schafft, so ganz allein.“

Emma schüttelte den Kopf: „Nein, das wär nicht gut. Sie ist hier zu Hause. Und es ist eine Katze. Die weiß wie man überlebt und sie wird es auch ihren Jungen beibringen.“

Dann traten sie aus der Tür in den kalten Wintermorgen.

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