Mimikry des Herzens
von Malte von Danwitz
Wir trafen uns beim See. So wie immer eigentlich, so, wie es eben passierte. Die anderen waren schon da, ich kam etwas später. Paul, Michael und Wiebke saßen zusammen. Kris schwamm im See und Fiona und Flip saßen in den Bäumen. Sie sahen mich als erstes und winkten mir zu. Ich ging zu der Runde auf der Picknickdecke und umarmte alle. Ich legte meine Sachen nieder. Es war viel Gestrüpp hier, das Ufer war verhältnismäßig wild, man musste etwas am hohen Schilf vorbei, um zum Wasser zu kommen.
Wiebkes Blick war gewöhnlich ruhig. Ich spürte ihn auf mir, früher hatte mich das verunsichert. Ich schaute hoch und lächelte, während ich aufatmete. Ich konnte jetzt etwas sagen, konnte erzählen, was mir passiert war, in den letzten Tagen. Sie würden mir zuhören. Wenn es helfen würde, würde irgendjemand etwas sagen. Wenn es nicht helfen würde, würden sie nicken und verständnisvoll schauen. Es wäre befreiend. Ganz bestimmt wäre es das.
„Wenig los heute,“ sagte ich. Ungerichtet. Ich ließ meine Blicke springen.
„Am anderen See ist wohl ein Open Air, auf Spendenbasis, “ sagte Paul, der seinen Kopf nicht mal in meine Richtung bewegte, sondern Rauch in Richtung See blies.
„Von uns hat keiner Lust?“, fragte ich.
„Nicht so wirklich. Später vielleicht,“ kam von Michael.
Ich nickte ab. Wir hatten uns auf solchen Open Airs getroffen, irgendwann vor Jahren. Immer wieder. Wir saßen zusammen und sind ins Gespräch gekommen ohne spezielle Inhalte, wir saßen lange. Wir hatten angefangen uns auch außerhalb der Festivals zu treffen. Am See wie heute, im Wald oder in der Stadt. Heute gingen wir kaum noch dorthin, wir saßen auch nicht mehr auf den Paletten oder zwischen den Strohballen.
„Hi“, sagte Kris und umarmte mich von hinten. Mein T-Shirt wurde nass. Ich lachte. „Geht’s gut?“
„Im Großen und Ganzen.“ Wieder vermied ich es zu reden. Irgendwas krampfte in mir. Wie eine Hand, die von innen die Organe packt und jedes Mal zu drehen anfängt, wenn ein Reiz aus der Außenwelt nahekommt, endlich mal Wärme zeigt. Auch, wenn es nasse Wärme ist.
Wiebke hatte sich hingelegt und ihre Augen geschlossen. Paul drückte seine Zigarette aus und rückte dann etwas zur Seite, damit sich Kris zu uns setzen konnte. Sie setzte sich neben mich. Von ihrem nackten Körper tropfte das Wasser immer noch. Ich kickte kleine Kieselsteine mit meinen Zehen weg und als wäre das nicht genug, starrte ich sie dabei auch noch an, die Kieselsteine.
„Schön,“ sagte Kris und strahlte mich an. Ihre Augen waren so offen. Paul sah mich jetzt auch an. Ich hatte das Gefühl, dass er skeptisch war. Das hatte ich oft, das verunsicherte mich vielleicht weniger als noch vor Jahren, aber immer noch ein bisschen. Heute wieder. Die Hand kroch bis in den Hals. Mein Bauch fiel in sich zusammen und das Ziehen war im Hals. Die Steine sprangen auch nicht mehr weg.
„Ich glaub, ich gehe Schwimmen, kommt jemand mit?“, fragte ich in die Runde.
Niemand schien Interesse zu haben. Nach kurzem Kopfgewackel oder Hochziehen von Mundwinkeln sagte Michael:
„Frag mal Flip. Der hatte eben gesagt, dass er heute schwimmen wollte.“
ich fragte Flip, aber der wollte nicht von seinem Baum runter. Fiona überlegte kurz, setzte sich dann aber doch lieber zu den anderen. Das Wasser war lauwarm. Mein Hals, meine Organe und meine Zehen entspannten sich ein wenig.
Wir blieben ein paar Stunden. Ich trank ein bisschen Wein, rauchte eine Zigarette, obwohl ich schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte, und redete, wenn mich jemand etwas fragte. Michael, Fiona und Flip spielten Karten. Wiebke und Paul rauchten mehrere Joints – zwei, vielleicht drei. Ich hatte nicht gezählt. Es war diesig, aber warm. Die Mücken tanzten um das Schilf und störten uns nicht. Das Wasser war ungewohnt still und wurde nur durch die Enten bewegt, die langsam, fast bedächtig ihre Vierecke zogen. Eine kam, um uns nach Brot zu fragen, wir hatten keines dabei. Sie blieb eine Weile, watschelte dann aber doch wieder zu ihrem Erpel. Ich habe sie als höflich wahrgenommen.
Michael und Fiona gingen früher. Als ich Michael umarmte, meinte ich zu fühlen wie er fester drückte, wie er innehielt, kurz den Augenblick einfror. Vielleicht sagte sein Körper etwas. Fiona hatte da etwas flüchtiges, vielleicht wie Luft, wie der Windhauch, der gefehlt hätte, wäre es nicht so diesig gewesen. Nachdem ich noch einen Schluck Wein getrunken hatte und alle Karten, Handtücher und sämtliche im Gras flimmernde Dinge eingepackt waren, stiegen wir auf unsere Räder und fuhren durch die Stadt. Ich hatte eine Linie im Kopf und versuchte sie, so gerade wie möglich, zu ziehen. Die anderen; Paul, Wiebke, Kris und Flip; mussten andere Dinge haben. Knäule vielleicht oder Dreiecke. Paul dachte bestimmt eher an Farben, eine Linie wäre ihm zu langweilig gewesen.
Wir verbrachten die Dämmerung im Garten, wir aßen, machten Feuer. Als es dunkel wurde, gingen Paul und Wiebke. Wiebkes Augen sagten mehr als ihr Körper. Pauls Hände waren warm. Das Holz knackte arhythmisch. Wir saßen nah beieinander, rutschten, wenn der Wind sich drehte, und rauchten. Wir redeten über die anderen. Es war nicht wirklich schick, das wussten wir, aber nach einigen Worten, nach einigen Momenten, die wir zu dritt dort saßen, mit dem Wissen, das sich für die nächsten Stunden nicht viel ändern würde, niemand würde mehr kommen, niemand würde mehr gehen, zeigte sich für uns dieser Konsens. Etwas hatte sich zwischen uns verändert, die Dynamik verlor sich zwischen den einzelnen Pausen. Ich hatte schon länger das Gefühl, ich hatte von meiner Seite aus diese Zeit dafür verantwortlich gemacht, wer sollte jetzt schon noch enormen Drive haben? Meine Probleme konnte ich nicht besprechen, diese Hände, dieses Zwicken in mir, zu viele Blicke auf mir gefielen mir nicht. Aber hier zwischen den monotonen Stimmen und dem Weichen vor dem Rauch, zeigte sich mir, dass ich oder die Zeit nicht unbedingt das Problem sein mussten. Oder gelinde gesagt, dass andere da auch so irgendwas sahen, wie ein Problem.
„Ich glaub, bei Paul ist das Ding auch, dass er nicht wirklich Aufträge reinkriegt. Das hat er immer gebraucht, hat man gemerkt,“ stellte Kris fest, nachdem wir das Zusammenbrechen unserer Dynamik schon als gültige Tatsache anerkannt hatten.
„Meinst du? Aber das hat er so nie zu uns getragen. Also ich meine, wirklich viel mit der Arbeit scheint er für mich nie beschäftigt zu sein, wenn wir abhängen,“ entgegnete Flip. Ich sah das ähnlich, nickte bloß.
„Ok, aber vor ‘nem Jahr lief ja auch noch alles, das wissen wir schon.“
„Ich weiß nicht, klar, Paul hat früher viel gezogen, aber daran jetzt alles fest zu machen…“
Hier, warum auch immer, meinte ich mich beteiligen zu müssen: „Das macht schon was aus, ob das jetzt an Aufträgen liegt oder nicht, aber das macht was aus.“
„Ich weiß nicht, ich check Wiebke aber auch nicht mehr. Ganz ehrlich, die sagt nichts von sich.“ Flip schien es unangenehm zu werden. Die Antwort kam schnell, fiel noch in meinen Satz ein, Luft zischte.
„Ne, aber das war immer so. Sie hört halt eher zu.“ Ich fühlte, dass ich mich verteidigen musste, obwohl ich eigentlich Wiebke verteidigte.
„Ok, ok, ganz ehrlich Leute, ich wollte jetzt auch nicht Paul an allem die Schuld geben. Macht keinen Sinn, ehrlich nicht, auch nicht, da jetzt einzeln durchzugehen, wer seinen Beitrag leistet. Ich meine, wir sitzen hier doch noch. Ist doch ganz nett.“ Kris fühlte was, Kris hatte auch keinen Bock mehr. Es ist eben auch nicht schick, diese Fragen, dieses Problem. Wir wurden stiller und unsere Blicke verloren sich im Feuer. Auf den Gesichtern die Wärme. Die Haut spannte und verhärtete mit dem Trocknen.
Ich schlief lange. In den Tag hinein und fast darüber hinaus. Als ich aufwachte, saß die Hand im Kopf und bemühte sich um die Mimikry eines Herzens. Noch nicht mal auf Kaffee hatte ich Bock. Ich musste raus. Ich musste was für mich machen. Bloß nicht auf diesem faden Sofa versinken. Nur mit meinem Körper und diesen Oberflächen.
Das Pulsieren ließ nicht nach und ich war zu müde, um mir irgendwas auszudenken. Also stieg ich in den Bus und fuhr zum See. Als ich ankam, ging die Sonne fast schon unter. Die Wellen schimmerten dunkelgelblich. Am Ufer, vor dem Schilf war eine Gruppe von Leuten. Sie trugen auffällige Kleidung und der Geruch von Schweinefleisch und Schnaps lag in der Luft. Rauchige Stimmen lachten tief oder gehässig. Auf einmal hörte ich eine glockende Stimme, die mir bekannt vorkam. Ich sah das rehbraune Haar und daneben auch noch diese schlaksige Figur. Michael und Wiebke waren zwischen diesen Leuten. Sie lachten dort. Standen, saßen nicht und schienen Teil dieser Stimmung zu sein. Als sie anfingen zu singen, Lieder, die wir gemeinsam verachtet hatten, vor Jahren, drangen die Finger durch meine Haut. Stießen in alle Richtungen. Ich hatte verloren.
Toller Text! Einladend aber mysteriös, habe seit Langem nicht so sehr genossen. Ich könnte mich irgendwie in den Charakter gut hineinzuversetzen… einfach gut geschrieben