Das Wort
von Dirk Lang
Es war ein schöner Tag, ein sehr schöner Tag. Die ganze Zeit schon schien die Sonne, nur vereinzelt sah man eine kleine Wolke am blauen Himmel. Endlich war Freitag, der letzte Arbeitstag in dieser Woche. Eine schwierige Woche, in der es in der Firma immer wieder unvorhergesehen Probleme zu lösen gab. Stress mit den Arbeitskollegen, vor allem dem Chef, der immer wieder etwas auszusetzen hatte oder anders wollte.
Aber das war in diesem Moment egal. Der Blick auf die Uhr sagte, dass in einer halben Stunde endlich das Wochenende beginnt. Das Wetter sollte noch besser als heute werden, und schon die ganze Woche hatte ich mit meiner zwölfjährigen Tochter Svenja geplant, was wir an diesem Wochenende alles zusammen machen wollten, während ihre Mutter auf Geschäftsreise sein würde. Natürlich gleich morgen zuerst an den See, am Nachmittag vielleicht noch zum Minigolf. Eis essen. Zusammen grillen. Im Garten im Zelt übernachten. Vor allem aber viel Spaß haben.
Bei diesen Gedanken musste ich vor mich hinlächeln, als ich meine Sachen zusammengepackt hatte und schon auf dem Weg zum Fahrstuhl war.
„Ach, Herr Werner, auf ein Wort noch!“ Die Stimme meines Chefs riss mich aus meinen Gedanken. „Schön, dass ich Sie noch sehe. Vergessen Sie den Bericht nicht, ich brauche ihn am Montag auf meinem Schreibtisch! Schönes Wochenende.“
Schönes Wochenende. Seine Worte hallten mir noch im Fahrstuhl nach. Natürlich hatte ich den Bericht nicht vergessen; ich war fast fertig damit. Aber allein die Erinnerung daran riss mich aus meinen schönen Wochenendplänen. Egal. Feierabend. Wochenende. Die Sonne schien, rein ins Auto und nach Hause.
Auf der Umgehungsstraße – der übliche Stau, nur noch länger diesmal. Ich war genervt. Der Autofahrer hinter mir begann zu hupen, andere schlossen sich an. Trotz des Ärgers musste ich lächeln. Egal. Wochenende.
Der Stau löste sich schließlich auf und zwanzig Minuten später war ich zuhause. Ich bahnte mir meinen Weg durch den Vorgarten, vorbei an dem umgestoßenen Fahrrad meiner Tochter, zwei Bällen und vor der Haustür schließlich ihrem Skateboard.
Als ich die Tür aufschloss, kam mir Svenja bereits auf der Treppe entgegen. „Papiiii, schau mal, was ich gebastelt habe.“ Mehr oder weniger im gleichen Moment traf mich ein spitzer Papierflieger am Hals.
„Super, ganz toll, Svenja“, dachte ich und sagte: „Vielleicht lässt du mich erstmal reinkommen?“
„Mama ist schon weg, wann fahren wir zum See?“, war ihre Antwort.
„Morgen, gleich nach dem Frühstück. Aber nur, wenn du vorher das ganze Chaos hier beseitigst. Das im Vorgarten und auch die Sachen von dir, die im Flur herumliegen. Man kommt kaum noch durch.“
Mit einem kurzen „Mach ich dann“ verschwand sie in der nächsten Sekunde wieder in ihrem Zimmer.
Am nächsten Morgen klingelte der Wecker früher als sonst, weil wir zeitig los wollten, um einen guten Platz zu bekommen.
Noch im Schlafanzug lief ich im Slalom durch den Flur, der eher noch voller als gestern war. Natürlich nichts weggeräumt. Ich öffnete die Haustür, um die Morgenzeitung zu holen. Das gleiche Bild draußen, neben dem Fahrrad lag nun noch ein großer Hüpfball, neben dem Skateboard ein Tischtennisschläger.
„Svenjaaaa!“, rief ich nach oben, und nach dem dritten Rufen kam schließlich ein gelangweiltes „Jaaaa?“ zurück.
„Svenja, komm bitte herunter, aber schnell.“
Nach einer weiteren Minute stand sie halb verschlafen vor mir. „Was ist denn?“
„Was ist? Dein Ernst? Schau dir das Chaos hier und draußen doch an! Du solltest aufräumen!“
„Mmmhhh, ja, mach ich dann heute Abend“ war die knappe Antwort.
„Nein, nicht heute Abend, sondern jetzt. Kein Aufräumen, kein See, so einfach ist das!“
„Aber ich hab‘ jetzt keinen Bock zum Aufräumen, ich mache das später.“
„Kein Aufräumen, kein See. Mehr sage ich nicht dazu.“
„Das finde ich blöd, immer nur aufräumen, als hätte ich nichts Besseres zu tun.“
„Wie bitte, das ist dir zu viel? Das ist blöd? Willst du mich verarschen? Du bist hier die Blöde!“
Plötzlich war es ruhig. Eine lange Pause. Eine zu lange Pause. Ich wusste, dass ich dieses Wort nicht hätte sagen sollen, so etwas hatte ich noch nie zu ihr gesagt. Aber jetzt war es raus. Und eigentlich fand ich es auch irgendwie richtig. Schließlich war sie es, die nicht aufgeräumt hatte. Sie war es, die mich verärgert hatte. Sie war es, die jetzt mit den Konsequenzen leben musste. Also auch kein Grund, irgendetwas zurückzunehmen.
Die Stille dauerte an. Svenja schaute mich mit Tränen in den Augen und bebenden Lippen an. Dann brach es aus ihr heraus: „Ich – bin – nicht – blöd!“
Weinend rannte sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
„Doch, genau das bist du, und der See ist gerade gestorben!“
Ich ärgerte mich im gleichen Moment maßlos. Über sie, aber auch über mich. Jetzt hatte ich es wiederholt. Und auch noch den See gestrichen, wo ich mich doch auf den Tag mit ihr so gefreut hatte. Aber was tun? Jetzt zurückrudern? Nein, das kam nicht infrage. Sie hatte mit dem Ärger angefangen und sollte sich nun gefälligst erst bei mir entschuldigen.
Die nächsten Stunden verliefen in absoluter Stille. Ich frühstückte allein. Gegen Mittag kam sie die Treppe herunter, lief wortlos an mir vorbei in die Küche, machte sich ein belegtes Brot, etwas zu trinken, und ging wieder in ihr Zimmer.
Weitere Stunden vergingen. Vom Flur aus versuchte ich hin und wieder etwas aus ihrem Zimmer zu hören. Nichts. Nur Stille. Ich wusste tatsächlich nicht, was ich tun sollte. Nachgeben? Nein. Irgendetwas sagen? Nein.
Am späten Nachmittag kam sie wieder die Treppe herunter ins Wohnzimmer. Mit Tränen in den Augen stand sie vor dem Tisch. „Entschuldigung.“ Dann eine Pause, die mir ewig vorkam, bevor sie mich mit festem Blick fixierte. „Aber ich bin nicht blöd!“
Dieser Moment war merkwürdig. Skurril. Irgendwie löste er die Spannung, aber irgendwie doch nicht. „Es tut mir leid, du bist nicht blöde“, erwiderte ich. In meinem Kopf tauchte ein „Aber“ auf, doch ich konnte es gerade noch hinunterschlucken.
„Nein, du bist nicht blöde!“ Fast gleichzeitig mussten wir anfangen zu grinsen.
Ich stand auf und schaute Svenja an. „Wenn überhaupt, sind wir beide blöd. Weil wir einen ganzen sonnigen Tag lang nicht an den See gefahren sind und uns lieber angeschwiegen haben.“
„Und weil wir nicht aufgeräumt haben“, ergänzte sie.
Ich nahm sie in den Arm. „Vor allem aber, weil wir nicht geredet haben. Das ist blöd!“.
Wir lachten. Es war kein schöner Tag. Aber wir lachten.
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